30. Oktober 2024 Cicero Interview mit Péter Szijjártó
Péter Szijjártó der seit 2014 ungarischer Außenminister ist, gilt unter seinen EU-Kollegen als Enfant terrible. Im Interview spricht er über die deutschen Grenzkontrollen, sein Verhältnis zu Annalena Baerbock und die Scheinheiligkeit der EU-Sanktionen gegen Russland.
- Herr Szijjártó, Deutschland will wieder Grenzkontrollen an allen seinen Grenzen einführen. Wie betrachtet die ungarische Regierung diese Entscheidung, und wie blicken Sie auf die deutsche Migrationsdebatte in den vergangenen Wochen?
Schauen Sie: Ich bin in einem Land geboren, das unter kommunistischer Herrschaft stand. In der Zeit des kommunistischen Ungarn gab es ein enorm striktes Grenzregime. Meine Heimatstadt war in zwei Hälften geteilt: Das nördliche Gebiet gehörte zur Tschechoslowakei, das südliche zu Ungarn. Familien wurden voneinander getrennt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Schengen-Abkommen eine der größten Leistungen der Europäischen Union war. Wenn wir wieder Grenzen innerhalb der Europäischen Union hochziehen, töten wir Schengen. Jene, die nicht in einem kommunistischen Land aufgewachsen sind, verstehen möglicherweise unsere Ängste nicht.
Die Europäische Union muss zu ihrem ursprünglichen Konzept zurückkehren. Was war das ursprüngliche Konzept? Die Außengrenzen der Europäischen Union müssen derart geschützt werden, dass die Grenzen innerhalb Europas sicher sind. Also exakt das, was Ungarn seit 2015 macht. Für mich war es sehr eigenartig, dass wir hierfür in den vergangenen neun Jahren permanent getadelt wurden. Wir haben seit der Migrationskrise 2015 nichts anderes getan, als das Schengen-Abkommen zu sichern. Die deutsche Entscheidung birgt die Gefahr, Schengen zu zerstören.
- Mit den Worten „Willkommen im Club“ gratulierte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán Bundeskanzler Olaf Scholz zur Entscheidung der Grenzkontrollen. Sie wurden in der Europäischen Union in den vergangenen Jahren scharf kritisiert für die migrationskritische Haltung der ungarischen Regierung. Fühlen Sie sich nun bestätigt in Ihrer Position?
Was derzeit in Deutschland passiert, bestätigt unsere migrationspolitische Haltung der letzten neun Jahre. Auf dem EU-Außenministertreffen 2015 wurde ich von Kollegen aufgrund unseres Grenzschutzes noch beschuldigt, der Repräsentant eines menschenfeindlichen Regimes zu sein. Nun haben exakt die gleichen Politiker kein Problem damit, Grenzen zu kontrollieren und Zäune zu errichten. Wir Ungarn erwarten nicht, dass diese Länder sich nun öffentlich eingestehen, dass wir Recht hatten.
- War die deutsche Migrationspolitik lange Zeit zu naiv?
Ja. Wenn Deutschland in den vergangenen Jahren eine andere Migrationspolitik verfolgt hätte, müssten sie nun nicht ihre Grenzen schließen, und die Europäische Union wäre nicht mit Migranten überflutet worden. Wir haben diese Zustände, da Politiker wie Matteo Salvini oder wir, die offen die Probleme benennen, in der Europäischen Union stets angegriffen wurden.
- Sie fordern einen konsequenten Schutz der EU-Außengrenzen. In Deutschland ist die Forderung nach sicheren EU-Außengrenzen verbreitet und schon fast zu einer politischen Floskel verkommen. Denn wie das konkret funktionieren soll, bleibt zumeist unklar. Wie kann der Schutz der EU-Außengrenzen gelingen?
Ich denke, es ist ganz einfach. Seit Jahren wird in der Europäischen Union internationales Recht gebrochen. Das internationale Recht besagt, dass ein Flüchtling nur im ersten sicheren Land, das er betritt, ein Recht auf temporären Schutz hat. Jeder, der von Nord-Mazedonien, Kroatien, Bulgarien oder Rumänien nach Ungarn kommt, kann nach dieser Definition kein Flüchtling sein. All die hier aufgelisteten Länder sind sichere Herkunftsstaaten. Die Länder der Europäischen Union müssen wieder das Dublin-Abkommen zum Maßstab ihrer Entscheidungen machen.
Die eigenen Grenzen zu schützen, ist ein wichtiger Bestandteil staatlicher Souveränität. Es ist das natürliche Recht eines jeden Landes, zu entscheiden, wer das eigene Land betreten darf und wer nicht. Das Schengen-Abkommen besagt, dass die Länder an den Außengrenzen der Europäischen Union für die Kontrolle zuständig sind. Auf dem Landweg könnten wir den Schutz unserer Außengrenzen problemlos garantieren, auf dem Seeweg ist es definitiv komplizierter, aber nicht unmöglich.
- Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat Ungarn immer wieder für seine strikte Migrationspolitik kritisiert und der Regierung vorgeworfen, sie würde die Rechtsstaatlichkeit des Landes untergraben. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihr?
Annalena Baerbock ist ein „großer Freund“ von uns. Baerbock ist eine links-grüne Politikerin aus Westeuropa, und ich bin ein rechts-konservativer Politiker aus Mitteleuropa. Die Prozentanzahl an gemeinsamen politischen Überzeugungen ist sehr überschaubar. Dennoch respektiere ich als Außenminister meines Landes immer die Repräsentanten anderer Länder, denn diese sind in demokratischen Entscheidungen gewählt worden. Ich respektiere Außenministerin Baerbock, da ich die deutschen Bürger respektiere. Im Gegensatz zu manch anderen Politikern in Europa verurteilen wir die demokratischen Entscheidungen eines anderen Landes nicht und mischen uns nicht in deren Politik ein. Auch ich könnte meine westeuropäischen Kollegen fragen, warum sie nicht ihre Bevölkerung beschützen. Doch das gehört nicht zur Berufsbeschreibung des ungarischen Außenministers.
- Die ungarische Regierung kritisierte immer wieder die EU-Sanktionspakete gegen Russland und die Waffenlieferungen an die Ukraine. Ist es nicht Appeasement, auf Russlands Angriffskrieg in der Ukraine nicht zu reagieren?
Ich war im Februar und März 2022 bei den ersten Verhandlungen über die EU-Sanktionen dabei. Damals war die allgemeine Annahme meiner Kollegen, dass wir Russland mit den Sanktionen in die Knie zwingen und sie den Krieg aufgeben werden. Nach inzwischen 14 Sanktionspaketen der Europäischen Union stelle ich offen die Frage: Konnte Russland in die Knie gezwungen werden? Nein, definitiv nicht. Waren wir in der Lage, Russland zu einer Aufgabe des Krieges zu zwingen? Nein. Außerdem sind die negativen Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft massiv; Deutschland bekommt das sehr gravierend zu spüren.
Was wir derzeit in der Debatte um die Sanktionen erleben, ist eine Scheinheiligkeit. Die großen Länder und Konzerne in Europa umgehen schlichtweg die Sanktionen. Politiker sind sehr stolz darauf, kein russisches Öl mehr zu kaufen. In der Zwischenzeit jedoch verkaufte Russland Öl an Indien in Rekordhöhe. Europäische Länder sind längst zu den Hauptabnehmern dieses Öls geworden, was in der Vergangenheit niemals der Fall war. Die gleiche Scheinheiligkeit betrifft auch den europäischen Handel mit russischem Gas.
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Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.