2. Januar 2025 Auszüge aus dem autobiographischen Roman von Miklós Duray
Am 30. Dezember 2022 verstarb nach langer Krankheit im Alter von 77 Jahren Miklós Duray, ungarischer Politiker, Schriftsteller, Universitätsprofessor aus der Slowakei. Er war nach János Esterházy, die wohl einflussreichste Persönlichkeit der ungarischen Gemeinschaft des Landes. Unter dem Titel Kutyaszorító (‘Zwickmühle’) erschien im Frühjahr 1983 bei Sándor Püskis New Yorker Verlag sein autobiographische Roman. Das Vorwort schrieb der Dichter Sándor Csoóri. Die behördliche Strafe ließ nicht lange auf sich warten. Duray wurde am Ende 1982 in der Tschechoslowakei verhaftet, Csoóri durfte ein Jahr lang keine publizistischen Texte mehr in Ungarn veröffentlichen und Sándor Püski hingegen wurde das Visum nach Ungarn verwehrt. Das war die wahre Diktatur.
„Ich war nicht mal zwei Jahre alt, als die Bedrohung tödlich wurde. Mutters schwächelnder Körper kämpfte mit einer Krankheit, sie lag im Bett, und Vater war auf dem Heimweg von einem Lebensmittel-Beutefeldzug. Ein Lastwagen hielt vor unserem Haus, vollgestopft mit erschöpften Menschen, die allesamt kleine Bündel mit sich trugen. Dann stürmte ein Trupp der Ordnungshüter des neuen Regimes – ehemalige Hlinka-Gardisten in schwarzen Stiefeln – in unser Haus. Sie kamen, um den Befehl zur sofortigen Evakuierung auszuführen. Die Familie durfte fünfzig Kilo Habseligkeiten mitnehmen. Sie erlaubten uns, zwei Säcke zu verladen, die nichts Wertvolles, das später in Geld hätte umgewandelt werden können, enthalten durften. Denn die Wertgegenstände wurden von den Deportationsbeamten vor den Augen meiner Eltern eingesammelt. Sie nahmen die wertvollsten Gegenstände, die sich abtransportieren ließen, mit und die, welche aufgrund ihrer Größe nicht sofort mitgenommen werden konnten, versuchten sie unbrauchbar zu machen. Mitten im Getümmel wurde ich aus dem Haus geschmuggelt und durch Stock und Stein zum Pfarrer gebracht, damit ich, falls ich während der Strapazen der Deportation sterben sollte, noch getauft würde.
Denn die Deportierten wurden aus den LKWs buchstäblich auf die Felder an der ungarischen Grenze entleert. Wie den Sand.
…Wir erhielten dann den „weißen Zettel“, das bedeutete, dass wir im Rahmen des zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn geschlossenen Abkommens über den Bevölkerungsaustausch nach Ungarn umgesiedelt werden würden. Dies berechtigte uns, unser Hab und Gut mitzunehmen. Meine Eltern richteten sich für die Umsiedlung ein. Alles, was vom Haushalt übrigblieb und nicht für das tägliche Leben notwendig war, wanderte in Kisten. Dann überquerte mein Vater mehrmals die Grenze, um unser zukünftiges Zuhause einzurichten. Er kaufte für einen Sack (80 kg) geschmuggelten brasilianischen Kaffee ein Haus in Balassagyarmat.
… Trotz unseres weißen Zettels wurden wir nicht nach Ungarn umgesiedelt, weil wir nicht mehr an die Reihe kamen. Im Frühjahr 1948, nach der kommunistischen Machtübernahme im Februar, wurde dieses Verfahren gestoppt. Der Grund dafür war, dass die Umsiedlung die guten Beziehungen zwischen den beiden kommunistischen Arbeiterländern gestört hätte. Für die slowakischen Nationalisten war dies zwar schwer zu akzeptieren. Die stark nationalistisch geprägte Führung der Slowakischen Kommunistischen Partei sah sich, obwohl sie dies nicht offen erklärte, die Entscheidung nur gezwungenermaßen zur Kenntnis zu nehmen.
Die Kommunisten im Umsiedlungsausschuss waren nämlich die eifrigsten Umsetzer der Maßnahmen und erleichterten auch den Start der zusätzlichen Transporte.
… Ab 1951 verschlechterte sich allmählich die finanzielle Situation unserer Familie. Im Jahr 1951 wurde die Schlosserei meines Großvaters entschädigungslos verstaatlicht. Die Einrichtung wurde zerschlagen, alles wurde auf einen Haufen geworfen und als Schrott abtransportiert … Kurz nach der Verstaatlichung, 1952, wurde mein Vater erneut aus seiner Arbeit entlassen, diesmal, weil er im Rahmen des wachsenden Klassenkampfs als Intellektueller galt. … Es wurden überfallartige Razzien durchgeführt. Zwei- oder Dreizimmerwohnungen wurden in zwei oder drei Teile geteilt. Wir lebten Tag und Nacht in Angst und Schrecken. Wenn der Wind das Tor bewegte, sprang meine Mutter mit der Wachsamkeit eines Kaninchens auf. Sie kommen, sie kommen wieder. Entweder die Geheimpolizei für meinen Vater oder sie wollten uns gerade jetzt deportieren und umsiedeln.
…Damals rollte die vierte Vertreibungswelle, die zwei Ziele verfolgte. Die Klassenfeinde zu brechen und die historisch gewachsene Struktur der ursprünglichen Stadtbevölkerung weiter aufzulösen.
In der Südslowakei war die Mehrheit der Bewohner der Städte immer noch ungarisch, vereinzelt gab es aber auch einheimische Slowaken und neue Siedler, welche ebenfalls Slowaken waren. Die alteingesessenen Bürger der Städte, die nach 1945, um ihre Haut zu retten, reslowakisiert worden waren, sich aber nicht mehr in das neue Machtsystem, das kommunistische System, integrieren konnten, weil sie nicht der kommunistischen Partei beigetreten waren, konnten sich dieser Umsiedlungswelle nur schwer entziehen. Und viele von ihnen bezahlten auch dieses Mal mit ihrem Leben, denn viele ältere gebrechliche Menschen waren vom Deportationsbefehl betroffen. Im tiefsten Winter wurden sie auf Lastwagen oder Pferdewagen verladen und in nähere oder weiter entfernte Dörfer gebracht, wo sie in Wirtschaftsgebäuden und Sommerküchen untergebracht wurden.
In der Südslowakei wurde durch diese Umsiedlungsaktion das verbliebene, alte, städtische Bürgertum, das in der überwiegenden Mehrheit aus Ungarn bestand, vollständig eliminiert. Die Ungarn wurden auch hier durch slowakische Siedler ersetzt.
…Aber auch das hörte mit der Zeit auf, und allmählich verringerten sich die Angst und die unmittelbare Gefahr gegen Leib und Leben. Dann packten wir die Sachen wieder aus, die 1944 und 1945 in Kisten verschwunden waren. Acht Jahre lang waren wir in ständiger Reisebereitschaft. Diese Periode – die späten vierziger und frühen fünfziger Jahre – bleibt in meiner Erinnerung als ein dunkler Raum, in dem wir alle still und ruhig saßen, damit uns nicht die Decke auf den Kopf fiel, und statt miteinander zu reden, fühlten wir nur die Gesichter der anderen. Damals lernte ich, meine Eltern nie um etwas zu bitten, denn sie konnten mir nur geben, was sie besaßen. Vor Weihnachten haben wir immer Briefe an Jesus geschrieben. Ich bat um Streichhölzer und Gurken, aber ich bekam doch Tonsoldaten.
… Zu Beginn der 1950er Jahre, obwohl sowohl die Tschechoslowakei als auch Ungarn von ähnlichen Stalinisten regiert wurden und sich beide Länder als kommunistisch bezeichneten, waren die Beziehungen zwischen den beiden Ländern immer noch unklar. 1951 starb einer der Brüder meines Vaters in Balassagyarmat, aber
weder Vater noch die Großmutter konnten an der Beerdigung teilnehmen, weil die tschechoslowakischen Sicherheitsbehörden uns eine Grenzübertrittsgenehmigung verweigerten.
1960 war die Situation noch ähnlich. Meine Freunde und ich hatten eine Radtour nach Ungarn geplant, aber man weigerte sich, unsere Passanträge anzunehmen und bezeichnete uns als „schrullige Franzosen“, weil wir überhaupt reisen wollten. 1955 sprach sich herum, dass in der Grenzzone eine dreitägige Grenzübertrittsgenehmigung erteilt wird, wenn man ein Telegramm mit einer Einladung zu einer Familienfeier vorlegen würde. Wir erhielten eines dieser Telegramme, in dem offiziell mitgeteilt wurde, dass jemand in Balassagyarmat heirate. Auf diese Weise kamen mein Vater, meine Schwester und ich zum ersten Mal nach Ungarn.
Es war für mich unglaublich, dass man überall um uns herum Ungarisch sprach.
Es war wunderbar. Das einzig Traurige war, dass meine Mutter nicht mitkommen durfte, damit unsere Freude nicht vollständig werden konnte. Seitdem empfinde ich jedes Mal, wenn ich nach Ungarn reise, ein Gefühl des Feierns, ich spüre, dass ein außergewöhnliches Ereignis stattfindet, und mir wird klar, dass es für einen im Ausland lebenden Ungarn vielleicht die größte Strafe ist, nicht in die Heimat, nicht nach Ungarn reisen zu dürfen.
…Und bei einem meiner Aufenthalte in Budapest, im Herbst 1973, als ich bereits erwachsen war, wurde ich Teil eines Erlebnisses, auf das ich geistig nicht vorbereitet war, das meiner Gefühlswelt völlig fremd war. Das jüngste Kind meiner Cousine wurde in der reformierten Kirche in Pasarét getauft, und am Ende des Gottesdienstes begann die Gemeinde, die ungarische Hymne zu singen.
…Nach 1969 verbündete sich der slowakische Nationalismus unweigerlich mit der kollaborierenden Linken, die in der tschechischen Politik aufkam. Auf diese Weise wurden der demokratische Geist und die ungarische Minderheit im Land mit vereinter Kraft unterdrückt.
Die Unterdrückung der Ungarn in der Tschechoslowakei blickt auf eine sechzigjährige Geschichte zurück, doch hat sie kaum solche Höhepunkte erreicht, wie zwischen 1945-48 und in den zehn Jahren nach 1968. Der Unterschied zwischen den beiden Zeiträumen ist nur scheinbar, denn die Prinzipien sind dieselben:
Das Hauptziel ist die Auslöschung der ungarischen Nationalität.
Eines der wirksamsten Mittel, um dies zu erreichen, besteht darin, die Ungarn als Kollektiv vom politischen Leben auszuschließen und ihnen nur miserable individuelle Rechte zuzugestehen, obwohl ein Verfassungsgesetz die nationalen Minderheiten anerkennt und ihnen im Prinzip gleiche Rechte garantiert.
…(nach 1968) wurde der gesetzliche Rahmen der ungarischen öffentlichen Kultur auf die unterste Ebene der Bürokratie gestellt. Auf diese Weise wurde die einzige Organisation, die einen nationalen Rahmen für die Minderheit bot, „CSEMADOK“, auf die Ebene eines Beratungsgremiums reduziert. Durch eine Reihe von Fusionen ungarischer Schulen und die Begrenzung der Zahl der Klassen wurde damit begonnen, die ungarischen Bildungseinrichtungen systematisch zu zerschlagen. Ein Viertel der ungarischen Grundschüler durfte nicht in ihrer Muttersprache lernen. Der jüngste Versuch bestand darin, den muttersprachlichen Unterricht neu zu organisieren und ihn auf ungarische Sprache und Literatur, Geschichte und Geografie zu beschränken.
Die allgemeine psychologische Kriegsführung, deren Mittel von der anti-ungarischen Flüsterpropaganda über die ethnische Bedrohung der Ungarn bis hin zur Einschränkung des Gebrauchs der ungarischen Sprache und – als Folge der Hindernisse – zur legitimen sozialen Degradierung oder gar Zwangsassimilierung reichen, nutzt alle Möglichkeiten, bis hin zur wirtschaftlichen Diskriminierung.
Ein Land, dessen Bürger ungarischer Nationalität es wagen, ihre Sprache, das grundlegendste Attribut der nationalen Existenz und der menschlichen Freiheit, in Ämtern, Institutionen und am eigenen Arbeitsplatz nur flüsternd oder gar nicht zu benutzen, kann seinen Internationalismus nur mit falschen Papieren beweisen. All diese Umstände machen es verständlich, dass der illegale Widerstand und die Untergrundorganisation der ungarischen Minderheit in letzter Zeit zunehmen und gelegentlich in Form verschiedener Proteste an die Oberfläche treten. Diese Art von Widerstand war in den vergangenen sechzig Jahren der Geschichte der Ungarn in der Tschechoslowakei unbekannt und ist ein Zeugnis für das völlige Fehlen von Menschenrechten.
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Seit 1971 habe ich nichts mehr veröffentlicht. Sie haben meine Schriften zur Veröffentlichung abgewiesen: ‚Wer sich heute in der Tschechoslowakei mit solchen Themen beschäftigt, sollte über sich selbst nachdenken‘. – sagte der Chefredakteur der Literarischen Rundschau 1978. Von den anderen Redakteuren der ungarischen Presse in der Tschechoslowakei wurde ich abgelehnt. … Zurzeit arbeite ich in der Konstruktionsabteilung eines Brücken- und Straßenbauunternehmens in Bratislava und beschäftige mich als Ingenieur mit Geologie.
Ich werde bald vierunddreißig Jahre alt (1979) und kein einziger Tag meines bisherigen Lebens wurde durch Wohlwollen des Staates – des Landes – mir gegenüber heiter gestaltet, denn alle seine Dekrete, Maßnahmen, geheimen und öffentlichen Entscheidungen, die Denkweise, Ideologie, der falsche Internationalismus, die nationale Propaganda, die verlogene Demokratie unserer Politiker haben gegen mich gearbeitet. Aber ich habe mich nicht ein einziges Mal gegen sie gewandt. Zusammen mit Hunderttausenden meiner Landsleute lebe ich in einer unverhältnismäßigen Minderheitssituation, und das hat meine Denkweise unweigerlich geprägt.
Die Erfahrung, in der Minderheit zu sein, ist die wichtigste Determinante für mein Bewusstsein. Im Minderheitenschicksal bieten nur das Selbstbewusstsein und das von ihm geleitete Handeln Schutz, denn jedes andere Handeln führt zur Selbstaufgabe.
Der Mensch hat das Recht, seine Überzeugungen zu ändern, seine Muttersprache zu verleugnen, seine Nationalität oder Religion aufzugeben. Er kann Atheist oder Ausländer werden, aber es ist ein unbestreitbares Menschenrecht, seine Nationalität, seine Muttersprache, seine Kultur und seine Religion beizubehalten, wenn er dies wünscht, und keinem angstauslösenden Druck von außen ausgesetzt zu sein, dies zu tun. Bereits Umstände, die zu solchen Spekulationen Anlass geben, ängstigen mit dem Schatten des Faschismus. Und ich habe das Gefühl, dass ich in der Tschechoslowakei im Jahr 1979 immer häufiger von diesem Schatten verfolgt wurde.
So lebe ich heute unter solchen Umständen, in denen ich keine öffentliche Möglichkeit habe, mich oder meine ungarischen Schicksalsgenossen zu verteidigen. Der Ausweg, der mögliche Ausweg daraus ist, ich wiederhole: Selbsterhaltende Taten.„
Deutsche Übersetzung von Dr. Andrea Martin