Der Grund für die Rücktritte der beiden Frauen war, dass die Staatspräsidentin anlässlich des Papstbesuchs in Ungarn einen Lehrer, der seinen wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Schulleiter gedeckt haben soll, nach fast abgesessener Gefängnisstrafe begnadigt hatte – mit Kenntnis und Unterschrift der Justizministerin. Der Fall wurde von den mehrheitlich linken ungarischen Medien aufgegriffen, sofort skandalisiert und gegen die „Kinderschänderpartei“ Fidesz gewendet. Sie riefen zu Kundgebungen aller „Wohlgesinnten“ „zum Schutz unserer Kinder“ auf, Promis und Halbpromis, unter ihnen zwielichtige Gestalten, paradierten als Kinderschützer in den Medien und auf den Straßen.
In diesem in staatsmännischer Pose und vor ebensolcher Kulisse gehaltenen Monolog forderte er sofortige Neuwahlen mit der Begründung, dass die „Orbán Regierung die ungarischen Menschen der Hoffnung auf ein besseres Leben beraubt“ habe. Der Staat funktioniere nicht, die öffentlichen Dienste „zerfielen“ trotz hoher Steuern. Persönlich beschuldigte er Viktor Orbán „die Ungarn der Verwahrlosung preisgegeben, ausgepresst und extrem gespalten“, sowie das Vaterland „nicht besser gemacht, sondern verraten“ zu haben. Ungarn sei das ärmste und korrupteste Land der EU, weshalb das ganze Land der Meinung sei, man habe keine Zeit mehr, es müssten zum denkbar nächsten Zeitpunkt Neuwahlen stattfinden.
Bald setzte er den Unfug mit einem Schreiben an den Staatspräsidenten fort. Als Grund für die angebliche Staatskrise nannte er wieder einmal die Korruption und den Diebstahl durch die Familie von Viktor Orbán. Weiterer Grund seien die ausbleibenden EU-Zahlungen und die angeblich drei Millionen Ungarn, die deshalb im Elend dahinvegetierten. Und wörtlich: „Wenn die entscheidende Mehrheit der Nation das Vertrauen zur Regierung verloren hat, dann ist es die Pflicht des Staatspräsidenten, sich über vorgezogene Neuwahlen abzustimmen.“ Und mit wem? Keine Frage, mit Péter Magyar.
Natürlich weiß der studierte Jurist Magyar, dass er mit dieser Aufforderung die Außerkraftsetzung der ungarischen Verfassung verlangt. Das ungarische Parlament kann laut Verfassung nur durch eigene Beschlussfassung aufgelöst werden, oder durch den Staatspräsidenten im Falle eines extremen Notstandes. Dass ein solcher Bestehe, kann Magyar zwar behaupten, aber ein paar Beweise wären schon nötig. Die Fidesz Partei regiert mit einer stabilen Zweidrittelmehrheit. Zwar herrscht viel Unzufriedenheit wegen ausbleibendem Wachstum und hoher Inflation, diese sind jedoch nur zum Teil selbstverschuldet und haben kein katastrophales Ausmaß. Ungarn ist weder das ärmste, noch das korrupteste Land der EU, die Steuern sind mit die niedrigsten in der EU. Bisher ist das Vertrauen in die Regierung nicht grundsätzlich erschüttert: Fidesz hat am 12. Januar die Nachwahlen im Komitat Tolna mit Zweidrittelmehrheit gewonnen, Magyars Tisza-Partei ging – warum auch immer – gar nicht erst an den Start.
Der Skandal als Methode der politischen Auseinandersetzung
Nicht erst mit dem Klamauk der Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen betreibt Magyar den kalkulierten, die prozedurale Ordnung bewusst missachtenden Aktionismus. Seine Auftritte – ob öffentlich oder auf seiner FB-Plattform – sind von planmäßigen Grenzüberschreitungen gekennzeichnet. Klug kalkuliert befinden sich diese in einem gesetzlich ungeregelten Graubereich: Er macht Dinge, die gerade noch nicht verboten sind, die man aber als anständiger Mensch und Politiker nicht tut.
Magyar erhob von Anfang an schwerwiegende Beschuldigungen gegen Mitglieder der Regierung und der Fidesz-Partei, ohne sich je um konkrete Beweise bemüht zu haben. Er redet in einer in Ungarn bisher öffentlich nie vernommenen respektlosen und beleidigenden Sprache über Mitglieder der Regierung, insbesondere über Viktor Orbán.
Er beschuldigt sie unter anderem der Lüge, des Betrugs, des Verrats, des Diebstals und des Kindesmissbrauchs.
Als neuestes Opfer hat er sich Staatspräsident Tamás Sulyok ausgesucht, den ehemaligen Vorsitzenden des ungarischen Verfassungsgerichts, den er der Vorteilsnahme und Verschwendung öffentlicher Gelder bezichtigt, weil er zur Pariser Olympiade gereist und nicht in einer Jugendherberge übernachtet hat. Das Verlangen, Sulyok möge ihn empfangen, um sich „politisch mit ihm abzustimmen“, widerspricht nicht nur der der Verfassung, die den Präsidenten zu Neutralität und strikter Zurückhaltung verpflichtet, es ist auch ein Ausdruck des Magyarschen Größenwahns, mit dem er sich über Regeln und Hierarchien hinwegsetzt.
Im vergangenen Jahr folgte ein skandalöser Auftritt auf den nächsten: Magyar randalierte betrunken in einem Nachtlokal, bedrängte junge Frauen,
er machte illegale Tonaufnahmen von privaten Gesprächen sowohl mit seiner geschiedenen Ehefrau als auch mit seiner neuen Freundin, diese wollte er vor Gericht gegen sie und Personen der politischen Führung benutzen.
Ohne Genehmigung überfiel er mit Personenschützern und Kamerateams Krankenhäuser und staatliche Kindereinrichtungen, um Enthüllungen auf seiner Facebook-Plattform zu produzieren. Auch hier erhob er pauschale Beschuldigungen gegen Ministerien und Mitarbeiter der Institutionen, ließ seine Personenschützer vor laufender Kamera kritische Journalisten körperlich bedrängen. Er behauptet unentwegt, Opfer von staatlicher Zensur zu sein, obwohl er selbst im staatlichen Fernsehen auftreten konnte, und die überwiegend linken ungarischen Medien und Internetplattformen ohnehin für seine stündliche Präsenz sorgen.
Tisza: eine Partei ohne Mitglieder und ohne Programm
Seine Partei, die Tisztelet és Szabadság (Respekt und Freiheit) Partei, abgekürzt Tisza, benannt nach dem zweitgrößten ungarischen Fluss, hat er praktisch von dessen erfolglosen Begründern gekauft. Damals vor den Europawahlen berief er sich darauf, dass er wegen der Kürze der Zeit sonst nicht hätte an den Wahlen teilnehmen können. Auf der Welle der auf den Begnadigungsskandal folgenden, selbst erzeugten gesellschaftlichen Erregung schwimmend gelang es der Tisza Partei auf Anhieb 30 Prozent der Stimmen zu gewinnen (Fidesz gewann mit 44 Prozent), das heißt, etwa 1,2 Millionen stimmten für ihn. Dieser beachtliche Erfolg gelang Peter Magyar, ohne dass seine Partei eine nennenswerte Mitgliedschaft oder ein Programm hatte.
Dieser Zustand dauert bis zum heutigen Tag an.
Die Tisza-Partei hat einen einzigen Programmpunkt, der unter ihren Anhängern zählt: Der Sturz von Fidesz und persönlich von Viktor Orbán und das Versprechen eines Rachefeldzugs.
Alles andere ist sekundär, unbedeutend, deshalb darf die Tisza Partei gar kein Programm haben, denn jede programmatische Festlegung könnte Stimmen und Anhänger kosten.
Das Wenige, was an Programmatik bisher öffentlich wurde, besteht in etwa Folgendem: Alles muss besser werden, die Schulen, die Krankenhäuser, alle öffentlichen Einrichtungen. Alle müssen mehr Geld vom Staat und den Unternehmen bekommen. Magyar meint, Ungarn „könnte auf ein bisschen Souveränität verzichten“, um Geld aus Brüssel zu bekommen, was mit ihm auf jeden Fall geschehen werde. Zum Beispiel könnte Ungarn die Ukraine unterstützen (wie die Tisza-Parlamentarier in Brüssel, die sich brav Ukraine-Shirts übergezogen haben, als die Europäische Volkspartei das seinen Mitgliedern verordnete), und sich der Willkür der EU-Staatsanwaltschaft unterwerfen.
Magyars beste Freunde sind in Brüssel
Die Europäische Volkspartei und insbesondere deren Vorsitzender, Manfred Weber (CSU), gehört zu den wichtigsten Unterstützern des Peter Magyar. Weber (und offensichtlich die EU-Führung) sieht in Magyar den zukünftigen ungarischen Ministerpräsidenten, dem sie den vorzeitigen Sturz Orbáns nicht nur zutrauen, sie ermutigen ihn dazu auch. Im Sommer besuchte Weber Magyar in Budapest und für die Medien posierte er mit ihm vor großer Kulisse. In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament im November 2024 lobte er Magyar ausdrücklich, weil er dem Beispiel des Polen Donald Tusk folge, der den konservativen Kaczinski verjagt habe.
So kämpfe auch Magyar, sagte Weber, gegen Viktor Orbán und für „europäische Werte und den Rechtsstaat“.
Weber sorgt auch dafür, dass im Europäischen Parlament die Immunität von Magyar nicht aufgehoben wird, obwohl gegen ihn wegen betrunkenem Randalierens und Diebstahls ein Gerichtsverfahren ansteht.
Wir wissen nicht, ob Ortsgruppen existieren, und wenn ja, wie viele. Zuletzt erklärte Magyar in einem Fernsehinterview des Senders ATV, dass es mehrere Zehntausend Parteimitglieder gebe, die mit mehreren Tausend Fachleuten zusammenarbeiteten. 65 Arbeitsgruppen würden Materialien vorbereiten für verschiedene Szenarien, für verschiedene weltpolitische Situationen.
Die Tisza Partei ist weitestgehend eine one man show, was sicherlich auch dem schwierigen Charakter des extrem reizbaren und unduldsamen Vorsitzenden zuzuschreiben ist. Der Parteichef verachtet nicht nur seine Gegner, sondern auch seine Unterstützer und Vertreter seiner Partei. Die frisch gewählten (und selbst ausgesuchten) EU-Abgeordneten seiner Partei nannte er „hirntot“ und befahl ihnen, niemals mit den Medien zu sprechen. Über die Teilnehmer einer von ihm veranstalteten Kundgebung fühlte er sich angewidert, weil sie „stinken und aus dem Maul riechen“.
Die Regierende Fidesz Partei ist am Aufstieg dieses von Rachegelüsten getriebenen Demagogen nicht unschuldig.
Orbán des Raubs am Volksvermögen zu beschuldigen, weil er nach einem ungeheuer belastenden Jahr drei Wochen Urlaub in Indien macht, ist zwar Demagogie, aber in Zeiten, in denen durch die Inflation die meisten Ungarn an Wohlstand verloren haben, lässt sich vor diesem Hintergrund Empörung selbst über das Statthafte leicht anstacheln.
Selbst als der Überraschungs-Effekt vorbei war, kam kein energischer Widerspruch, und selbst in Fällen, in denen man strafrechtlich hätte vorgehen können, tat man es nur der Form halber.
Warum das so ist, kann man als Außenstehender nur vermuten. Es sind die ständigen Behauptungen der EU-Führung und der Biden-Regierung, Ungarn sei eine Autokratie, die Orbán und Fidesz daran hindern, energischer gegen diesen Unfug vorzugehen. Lieber lassen sie die Magyarschen Respektlosigkeiten durchgehen, als einen möglichen Grund für die Behauptung zu liefern, Orbán würde die Opposition unterdrücken und sei deshalb ein Autokrat. Damit aber vergrößern sie ungewollt den Schaden, den Magyar mit seinem Klamauk an den angestammten Sitten und Institutionen anrichtet. Eine Ausnahme ist Staatspräsident Tamás Sulyok, der mit der ganzen Würde seines Amtes die Magyarschen Anmaßungen zurückgewiesen hat. Er reagierte in aller Schärfe – blieb damit jedoch weitgehend allein.
Fidesz hat also weiterhin keine ernsthafte und fähige Opposition, die sie zwingen könnte, Fehler zu korrigieren und zu vermeiden. Péter Magyar hat die alte Opposition zwar abgelöst, aber er ist weit davon entfernt, diese Aufgabe zu erfüllen. Es ist ein Albtraum auch nur daran zu denken, was passierte, wenn er die Führung des Landes in die Hände bekäme.