26. Oktober 2024. Achgut.com
Der 23. Oktober, der Jahrestag der Revolution von 1956, ist einer der drei großen ungarischen Nationalfeiertage . Am diesen Tag hielt der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán auf einer Kundgebung eine Rede ie hier mit nur geringfügigen Kürzungen dokumentiert wird. Sie ist vor allem interessant, weil sie wie bisher kaum eine andere Erklärung Orbáns die immer tiefer werdende Kluft zwischen EU und Ungarn beleuchtet:
„Der Revolution von 1956 sind Schicksalsschläge vorausgegangen. Im Januar 1956 wurde das Land von einem Erdbeben erschüttert und im März überschwemmten die eisigen Fluten der Donau das Umland. Erwachsene und Kinder starben, mehrere hundert Familien wurden obdachlos und mussten evakuiert werden. Es waren Zeichen, dass man sich auf große, den nationalen Zusammenhalt einfordernde Zeiten vorbereiten sollte. Und dann, im Oktober 1956, verließ nach der Donau auch der Strom der Geschichte sein gewohntes Bett. (…)
Die Geschichte hat 1956 deshalb sein Strombett verlassen,
weil Ungarn nicht mehr bereit war, die Unterdrückung durch das sowjetische Imperium zu erdulden.
Die Ungarn sind ein freiheitsliebendes und freiheitskämpferisches Volk. Das Zaumzeug liegt ihnen nicht, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie ausbrechen. Noch nie ist es einem Besatzer gelungen, die Ungarn zu zähmen und zu unterwerfen. Die Unterdrückung durch das sowjetische Imperium hat uns gefesselt und auch verkrüppelt. Sie hat die ungarischen Familien ausgeplündert und zu Habenichtsen gemacht, sie des Sinns der Arbeit von Generationen beraubt. Die Ressourcen und die Arbeit unseres Volkes sollten statt den Interessen des eigenen Landes denen des Imperiums dienen. Nach den Verwüstungen des Weltkrieges zwangen sie uns ihre Marionettenregierung auf. Eine Marionettenregierung, in der ungarische Kollaborateure saßen. Ihre Aufgabe war es, die ungarischen Güter in fremde Hände zu überspielen, die Arbeit und die Lebenskraft der Ungarn in den Dienst des Imperiums zu zwingen.
Imperien pflegen ihre brutalen Züge zu verbergen. Sie sind empfindsam, sie möchten gerufen werden. Und sie tun auch alles, damit es jene Ungarn auch gibt, die sie rufen. So ging auch die Sowjetunion vor. Sie wollte, dass ihre Genossen – die ungarischen Kommunisten – eine Marionettenregierung bilden, die dann die sowjetischen Besatzungstruppen darum bitten, zu bleiben. Und wenn die Lage es erfordert und mehr Soldaten gebraucht werden, dann auch um die Verstärkung zu bitten. Aufgrund erfundener Anklagen warfen sie unsere nicht-kommunistischen Führer ins Gefängnis.
Die Ungarn wurden terrorisiert, erpresst und durch Gewalt zum Schweigen gebracht. Wer ihnen nicht gefiel, wurde eingesperrt. Was ihnen gefiel, nahmen sie mit. Und wenn die Ungarn immer noch Widerstand leisteten, dann halfen sie ihren Genossen durch Wahlbetrug an die Macht.
So gelang es schließlich, die Moskauer Kader dem Volk aufzuzwingen. Den Rest kennen wir: Enteignung, Internierungslager, verkrüppelte Leben, verlorene ungarische Zukunft.
Und als sie tatsächlich geglaubt haben, dass sie alles schön für sich eingerichtet hatten, erschienen die Zeichen an der Wand. (…) Auch wenn alle Waffen der Macht dem Gegner gehören, auch wenn dieser Überlegen ist, auch wenn die Ungarn sich in einer weltpolitischen Zwangslage befinden – sie dulden keine Erniedrigung. Damit das jedes Imperium und jede Marionettenregierung ein für alle Mal versteht – dafür haben wir den glanzvollsten Befreiungskampf der Geschichte geführt. (…) Die Sowjets und ihre kommunistischen Statthalter haben die Botschaft verstanden. In den darauf folgenden 34 Jahren haben sie sich etwas zurückgenommen und schließlich sind sie nach Hause gegangen. Deshalb können wir heute hier stehen und frei sein. (…)
Heute scheint die Geschichte wieder einmal ihr gewohntes Flussbett zu verlassen. Die Zeichen stehen wieder an der Wand. In unserer Nachbarschaft tobt seit drei Jahren Krieg. Er wird immer verzweifelter und blutiger. Niemand weiß, wie lange er dauern wird. An der Front sind bereits hunderttausende gestorben. Auch die europäische Wirtschaft hat schwere Schäden davongetragen. Das Geld strömt ungezählt in die Ukraine, es findet keine Wirtschaftsentwicklung statt, die Preise sind im Himmel, die europäischen Unternehmen leiden. Wir sind es, die unter der Last der Sanktionen verbluten, die Investoren ziehen von Europa in Richtung USA ab, die europäischen Führer sind jedoch von der Illusion des Sieges berauscht.
Seit drei Jahren werden die Kontrahenten nicht fertig miteinander, das Blutvergießen geht weiter, und zugleich wächst die Gefahr, dass sich der Krieg ausbreitet. Wenn er sich einmal anfängt auszubreiten, weiß keiner, wo er aufhören wird. Noch niemals in den vergangenen 70 Jahren waren wir einem Weltkrieg näher.
Jeder sieht es und tut so, als würde er es nicht sehen. Der König ist nackt! Es ist Zeit festzustellen:
Die europäischen Führer, die Brüsseler Bürokraten haben den Westen in einen hoffnungslosen Krieg geführt.
In ihren von der Hoffnung auf den Sieg berauschten Köpfen glauben sie, dass dies der Krieg des Westens gegen Russland sei, den sie unbedingt gewinnen müssten, sie müssten den Feind in die Knie zwingen und aus ihm alles herauspressen, was nur geht. Das ist ihr großes gemeinsames Ziel. Nun wollen sie offen die ganze Europäische Union in den ukrainischen Krieg hineinzwingen. Sie haben schon den neuen Siegesplan veröffentlicht. Sie besteht im Wesentlichen aus der Ausbreitung des Krieges. Im Plan steht, dass die Ukraine sofort zur Nato-Mitgliedschaft eingeladen wird. Russland soll zum Kriegsschauplatz werden. Es gehört sogar zum Plan, dass nach dem Sieg an der Ostfront die Ukraine mit seiner erstarkten Armee bereit sei, die Amerikaner zu ersetzen und die Sicherheit ganz Europas zu garantieren. Das heißt, wir Ungarn wachen eines schönen Tages auf, und wieder sind slawische Soldaten aus dem Osten in unserem Land stationiert. Wir wollen das nicht! Doch der Druck aus Brüssel auf unseres Land und die Regierung wird täglich stärker. Wir Ungarn müssen also auch entscheiden, ob wir Krieg gegen Russland führen wollen.
Unseren politischen Gegnern nach müssen wir das. Für sie besteht die Lehre aus 1956 darin, dass wir für die Ukraine, ja in der Ukraine kämpfen müssen.
Für uns dagegen besteht diese Lehre darin, dass wir nur für eine einzige Sache, nämlich für Ungarn und die ungarische Freiheit kämpfen dürfen.
Heute können wird damit das meiste für Ungarn und die ungarische Freiheit tun, dass wir uns nicht an Kriegen der anderen beteiligen. Wir können das meiste tun, indem wir nicht zulassen, dass unser Land zum Kriegsschauplatz wird, und wir die Freiheit, den Frieden und die Sicherheit Ungarns bewahren. Stecken wir nicht den Kopf in den Sand! Sehen wir der Realität ins Auge! Dieser Krieg ruiniert die ganze europäische Wirtschaft, Millionen von Familien werden alles verlieren, wenn wir zulassen, dass es so weitergeht. Lassen wir das nicht zu!
Die unabhängige ungarische Politik ist für Brüssel inakzeptabel. Wir müssen auch dieser Tatsache ins Auge sehen. Deshalb haben sie in Brüssel offen erklärt, dass sie die nationale Regierung Ungarns loswerden wollen. Sie haben auch erklärt, dass sie uns eine Brüsseler Marionettenregierung aufzwingen wollen. So stehen wir wieder vor der alten Frage: Wollen wir uns vor dem fremden Willen beugen – diesmal dem Willen Brüssels – oder werden wir Widerstand leisten? Vor dieser schweren Entscheidung steht Ungarn jetzt. Ich schlage vor, dass unsere Antwort so klar und eindeutig sein soll wie seinerzeit 1956.
Wir werden uns an keiner der imperialen Rivalitäten beteiligen, wir wollen uns nicht an den Feindseligkeiten anderer beteiligen.
Wir glauben an keinen der weltbeglückenden Ideologien – egal ob sie aus dem Osten oder eben aus dem Westen kommen. Wir wollen nur eines: Friedlich hier im Karpatenbecken leben, nach unseren eigenen Gesetzen und unser eigenes Glück verfolgen.
Wir haben schon hundertmal bewiesen, dass wir keine Angst bekommen, wenn wir vom jeweils aktuellen Imperium erpresst werden. Wir wissen, dass sie uns in den Krieg zwingen wollen. Wir wissen, dass sie uns ihre Migranten aufzwingen wollen. Wir wissen, dass sie unsere Kinder den Genderaktivisten in die Arme treiben wollen. Wir wissen, dass die auserkorene Marionettenregierung bereits steht. Es gibt auch schon die Partei, die Brüssel uns aufoktroyieren will. Sie haben auch schon den richtigen Mann dafür gefunden, einen echten Unterschreiberling. Der ideale Kandidat für die Spitze einer jeden Marionettenregierung.(1)
1956 war ein Freiheitskampf, Ungarns Befreiungskampf gegen ein Weltimperium. Wir haben gekämpft: 1456 bei Nándorfehérvár gegen die Türken (2), 1848 gegen Österreich und 1956 gegen die sowjetischen Truppen. Immer ein Kampf von David gegen Goliath. Patrioten kämpfen auch heute für die ungarische Freiheit. Doch 2024 ist man nicht Patriot, wenn man ein Loch in die Mitte unserer Nationalflagge schneidet oder ein Molotov-Cocktail schmeißt. Nicht die Kleider, nicht das Geschwätz machen einen zum Patrioten. Nur die Taten zählen. Und diese sprechen für sich.
Das ganze Land konnte sehen, was im Europäischen Parlament geschah. Wir haben die ungarischen Interessen, die ungarische Freiheit gegen die imperiale Politik der Europäischen Union verteidigt. Während die ungarische Opposition dabei war, dem Imperium seine Dienste anzubieten.
Es ist eine rechte, nationale Tradition, die Familie und das Vaterland zu verteidigen. Und es ist eine internationalistische Tradition, das Vaterland zu verkaufen und die Familie im Stich zu lassen.
Alte oder neue Opposition – nur das Etikett hat sich geändert. Diese neue Opposition macht dasselbe wie die alte. Ruft Fremde zur Hilfe gegen Ungarn. 1956 die Führung der Sowjets, heute die Führung in Brüssel. Der neue Anführer der Opposition sitzt mit ihnen an einem Tisch zusammen mit Manfred Weber. Das ist keine Verschwörungstheorie, das ist eine echte Verschwörung, die direkt vor den Augen der ganzen Welt stattfindet. Die neue Lovestory des 21. Jahrhunderts. Wir alle konnten sehen, wie das Herrchen in Brüssel seinen Hund tätschelte. Das ist wahre Liebe! Das ist ihre Tradition, meine Freunde! Im Kampf David gegen Goliath stellen sie sich irgendwie immer auf die Seite Goliaths. Aber eines vergessen sie auch immer: das Ende der Geschichte. Weil diese Geschichte geht immer auf die gleiche Weise zu Ende.
Goliath verliert, David gewinnt. Dann kann man packen und gehen. Wie Béla Kun nach Wien, Rákosi nach Moskau, und die heutigen nach Brüssel.
(…) Wir haben heute die Möglichkeit für souveränes Handeln, und ich verspreche Ihnen, dass wir sie nutzen werden. Ungar sein bedeutet kämpfen können. Das verlangen von uns die Helden von 1956. Wir werden es nicht dulden, dass man uns in einen Marionettenstaat, in einen Vasallenstaat Brüssels verwandelt. Es wird nicht gelingen. Wir werden gewinnen, sie werden verlieren. Wir Ungarn können und werden es schaffen. Wir werden es wieder schaffen.
Ehre den Helden von 1956! Der liebe Gott über uns allen, Ungarn vor allem! Hajrá (3) Ungarn!
Übersetzung von Krisztina Koenen. Sie war Redakteurin des FAZ-Magazins und der Wirtschaftswoche. Danach wechselte sie in die Unternehmenskommunikation. Sie ist Autorin mehrerer Bücher.
Anmerkungen:
(1) Gemeint ist Péter Magyar, der selbsternannte Herausforderer von Viktor Orbán an der Spitze der neu gegründeten Tisza-Partei. Péter Magyar ist der geschiedene Ehemann der zurückgetretenen Fidesz Justizministerin Judit Varga, er war einer der privilegiertesten Nutznießer des von Fidesz betriebenen Nepotismus. Als er seine lukrativen Ämter verlor, gründete er innerhalb weniger Tage eine Anti-Fidesz Bewegung und dann die eigene Partei. Bei den Europa-Wahlen erhielt die Partei auf Anhieb fast 30 Prozent der Stimmen und konnte sieben Abgeordnete, darunter Magyar selbst, ins EP schicken. (Wir haben hier und hier berichtet)
Magyar hatte sich schon vorher öffentlich Manfred Weber von der EVP angedient und die zwischen ihnen bestehende Männerfreundschaft gelobt. Weber hegt einen leidenschaftlichen Hass auf Orbán, seitdem der verhindert hatte, dass er zum Kommissionspräsidenten gewählt wurde. Magyar schmeichelte nicht nur Weber, sondern auch mehrfach öffentlich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Unlängst erklärte er zu seiner geplanten Europa-Politik in einem Interview: „Tatsächlich müsste man nur auf ein winziges Stück Souveränität verzichten, damit die ungarischen Menschen die Mittel der Union wieder erhalten.“
(2) Nándorfehérvár, heute Belgrad. Gemeint ist der Kampf gegen die türkische Belagerung Nádorfehérvárs unter der Führung von János Hunyadi.
(3) Das ungarische „hajrá!“ ist eine Entsprechung des italienischen „forza!“