Eine heftige Kontroverse entbrannte nach den jüngsten Äußerungen des ehemaligen EU-Kommissars für den Binnenmarkt, Thierry Breton, zur angeblichen Befugnis der Europäischen Union, Wahlergebnisse in ihren Mitgliedsstaaten zu annullieren. Breton machte diese Aussage im vergangenen Monat im französischen Fernsehsender RMC Story. Mit Blick auf die bevorstehenden Bundestagswahlen in Deutschland und die Erwartung, dass die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) gut abschneiden könnte, erklärte er: „Wir haben es in Rumänien getan, und wir werden es offensichtlich in Deutschland tun, wenn es nötig ist.“
Breton bezog sich auf die rumänischen Präsidentschaftswahlen im November, bei denen die Ergebnisse annulliert wurden, nachdem der rechtspopulistische Kandidat Călin Georgescu unerwartet die meisten Stimmen erhalten hatte. Das rumänische Verfassungsgericht begründete diese Entscheidung mit einer angeblich von Russland gesteuerten Online-Kampagne zur Wahlbeeinflussung.
Breton präzisierte nicht, wen er mit „wir“ meinte, doch als Brüsseler Politiker wurde allgemein angenommen, dass er sich auf die Europäische Union bezog.
Die Annullierung der Wahl in Rumänien hat weltweit für Aufsehen gesorgt. US-Vizepräsident J.D. Vance verwies diese Woche auf das Ereignis, um auf einen Mangel an Demokratie in Europa hinzuweisen und europäische Eliten auf der Münchner Sicherheitskonferenz scharf zu kritisieren.
Auch András László, ungarischer Europaabgeordneter der Fidesz-Partei von Viktor Orbán, sorgte für Aufmerksamkeit, als er Bretons Äußerung auf X kommentierte: Die Europäische Union verweigere es, demokratische Normen zu respektieren, und sei bereit, „die Demokratie abzuschaffen“, wenn ihr das Wahlergebnis eines Mitgliedsstaates nicht passe. Unternehmer und Leiter der neu gegründeten US-Behörde für Regierungseffizienz (DOGE), Elon Musk, teilte Lászlós Beitrag mit dem knappen Kommentar: „Genau.“
Die ungarische Faktencheck-Seite Faktum untersuchte daraufhin die Stichhaltigkeit von Lászlós Behauptungen. Diese Debatte gewinnt zusätzliche Brisanz im Zusammenhang mit dem Digital Services Act (DSA) der EU, der 2022 verabschiedet wurde und 2024 in Kraft trat. Der DSA verpflichtet Online-Plattformen innerhalb der EU dazu, auf Anweisung der Brüsseler Bürokratie Inhalte zu zensieren, sofern diese gegen EU-Recht verstoßen. Zudem schreibt er größere Transparenz bei politischer Werbung vor.
Einige Online-Unternehmen, darunter Google, haben inzwischen erklärt, dass sie sich dem DSA nicht beugen werden. Elon Musks Plattform X wurde von der EU beschuldigt, gegen den DSA zu verstoßen, indem sie „problematische politische Inhalte“ verbreitet. Musk weist diese Vorwürfe zurück und behauptet, die EU versuche lediglich, unliebsame Meinungen zu unterdrücken.
Bisher wurde kein Wahlergebnis unter Berufung auf den DSA annulliert. Doch theoretisch könnte ein Mitgliedsstaat ihn oder andere EU-Gesetze dazu nutzen, eine nationale Wahl rückgängig zu machen, wenn ihm das Ergebnis nicht passt. Nach den Verträgen der EU sind nationale Gerichte sowohl für die Durchsetzung des EU-Rechts als auch des nationalen Rechts zuständig.
Obwohl die EU offiziell nicht an der Annullierung der rumänischen Wahl beteiligt war – zumindest nicht offen –, wird die Situation dort genau beobachtet. Manche sehen sie als Testfall dafür, wie der DSA künftig genutzt werden könnte. Dies unterstreicht auch die Entscheidung der Europäischen Kommission, eine eigene Untersuchung darüber einzuleiten, ob „russische Einflussnahme“ in sozialen Medien eine Rolle bei der Wahl in Rumänien gespielt hat.
Brüssel scheint mit zweierlei Maß zu messen, wenn es um „ausländische Einmischung“ geht. András László wies in seinem Tweet darauf hin, dass die EU schwieg, als Viktor Orbáns vereinigte Opposition vor den ungarischen Parlamentswahlen 2022 zehn Millionen Dollar aus anonymen Quellen in den USA und der Schweiz erhielt. Es war zudem allgemein bekannt, dass die US-Botschaft die Medienarbeit der Opposition während des Wahlkampfs unterstützte. (Die Europäische Kommission weist Vorwürfe der Doppelmoral zurück und betont, dass sie nur begrenzte Befugnisse bei Wahleinmischung habe, da diese grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten falle.)
Als Reaktion darauf verabschiedete das ungarische Parlament 2023 ein Gesetz, das zur Einrichtung des Amtes für die Verteidigung der Souveränität führte. Diese Behörde soll ausländische Einmischung verhindern, indem sie beispielsweise Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und andere Institutionen in Ungarn überprüft, die aus dem Ausland finanziert werden. Die EU verklagte daraufhin Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof mit der Begründung, das Gesetz verstoße gegen die Grundrechtecharta der EU.
Im Fall Deutschlands garantiert das Bundeswahlgesetz die Integrität der Wahlen. Es ist zugleich das rechtliche Instrument, um Wahlergebnisse anzufechten. Das Bundesverfassungsgericht wäre die zuständige Instanz, falls es Hinweise auf Wahlmanipulation gäbe. Doch eine Annullierung von Wahlergebnissen ist in der jüngeren deutschen Geschichte noch nie vorgekommen. Faktum hält es für äußerst unwahrscheinlich, dass ein deutsches Gericht allein aufgrund der neuen EU-Richtlinien zu sozialen Medien ein Wahlergebnis für ungültig erklären würde.
Sollte die deutsche Regierung Hinweise auf ausländische Einflussnahme bei einer Wahl finden, würde sie zunächst eine Untersuchung einleiten, bevor sie den drastischen Schritt der Annullierung eines Ergebnisses erwägt. Zudem müssten dazu klare und umfassende Beweise vorliegen. Das unterscheidet sich grundlegend von den Ereignissen in Rumänien, wo das Wahlrecht völlig anders geregelt ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein deutsches Gericht eine Bundestagswahl annulliert, ist daher äußerst gering.
Wie der DSA letztlich die nationale Politik in Europa beeinflussen wird, bleibt abzuwarten. Einigkeit besteht darüber, dass Wahlen im Zeitalter der sozialen Medien vor ausländischer Einflussnahme geschützt werden müssen. Doch während Liberale den DSA als Instrument gegen solche Einmischungen sehen, befürchten Konservative, dass er die Meinungsfreiheit einschränkt. Welche Auswirkungen der DSA in der Praxis haben wird, wird sich erst noch zeigen.
Im Fall Deutschlands kann jedoch zumindest festgehalten werden: Thierry Bretons Behauptung, die EU werde die Bundestagswahl annullieren, falls die AfD gut abschneidet, ist stark übertrieben.
Übersetzt und bearbeitet von Hans Seckler