Patrioten für Europa – Die Rolle von Viktor Orbán
16. Juli 2024 Tichys Einblick von Bence Bauer
Die neue konservative Fraktion „Patrioten für Europa“ wird mit 84 Abgeordneten auf Anhieb drittstärkste Kraft im EU-Parlament. Viktor Orbán spielt eine bestimmende Rolle. Von Bence Bauer
Spätestens seit der Suspendierung der ungarischen Regierungspartei Fidesz in der Europäischen Volkspartei (EVP) im März 2019 und dem finalen Austritt von Fidesz aus der EVP im März 2021 treibt Brüssel die Frage um, welcher Fraktion sich die seit 2010 regierende konservative ungarische Fidesz-Partei anschließen werde. Bekanntlich blieb der kleine Koalitionspartner, die Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP), bis in die jüngste Vergangenheit Mitglied der EVP-Parteienfamilie und auch der EVP-Fraktion. Immer wieder sprossen Spekulationen ins Kraut, ob sich die Fidesz der Fraktion Identität und Demokratie (ID) oder den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) anschließen würde.
Am Ende kam alles anders als gedacht. Ministerpräsident
Viktor Orbán versammelte sich am Vortag des Beginns der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft mit Herbert Kickl (FPÖ) und Andrej Babiš (ANO) in Wien, um die Gründung der Fraktion „Patrioten für Europa“ (PfE) anzukündigen. Innerhalb weniger Tage wuchs die Zahl der Beitrittswilligen exponentiell an, am Ende begründeten am 8. Juli 2024 in Brüssel insgesamt 84 Abgeordnete aus zwölf Ländern und 14 Parteien die neue Fraktion „Patrioten für Europa“ im EU-Parlament.
Damit wird die neue Gruppierung aus dem Stand heraus drittstärkste Kraft.
Programmatik
Die neue Gruppierung gründet auf dem am 30. Juni in Wien verabschiedeten „Patriotischen Manifest“. Nach diesem wäre die Europäische Union heute an einem historischen Wendepunkt. Die Europäische Union hätte sich gegen die Europäer gewandt und würde Interessen vertreten, welche den Interessen der Nationen, der Regionen und den kleinen Gemeinschaften, die unsere europäische Heimat ausmachen, zuwiderlaufen würden.
Die den europäischen Bürgern entrückten Brüsseler Bürokraten würden nicht mehr die Bedürfnisse der europäischen Nationen berücksichtigen, sondern seien ihnen fremdgeworden und stünden für andere Lobby- und Interessengruppen.
Die politische Bruchlinie verliefe heute nicht mehr zwischen Konservativen und Liberalen oder zwischen Rechten und Linken, sondern zwischen Zentralisten, die einen neuen europäischen „Superstaat” einläuteten, und Patrioten und Souveränisten, die für den Erhalt und die Stärkung des von uns geschätzten Europas der Nationen kämpften.
Die Verfasser des Manifests glauben an ein Europa, das aus starken, stolzen und unabhängigen Nationen besteht, die aus einem gemeinsamen Beschluss im Einvernehmen für eine Zusammenarbeit stehen im Auftrag der europäischen Nationen, denen sie schlussendlich verantwortlich sind. Nach einem Bekenntnis zu Frieden und Dialog, zu einem souveränem Verfolgen der europäischen Interessen bar jeglicher Abhängigkeiten, zur europäischen Identität, zur Vielfalt und zur Freiheit Europas mit seinen Lebensgrundlagen, zum Grenzschutz und zur Bewahrung der kulturellen Identität, dem Schutz der europäischen Bevölkerungen vor politischen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Bedrohungen und dem Glauben an Diplomatie als ein grundlegendes Element der Souveränität der Mitgliedsstaaten schließt das Dokument mit dem Satz:
„Wir, die patriotischen Kräfte Europas, verpflichten uns, die Zukunft unseres Kontinents den europäischen Völkern zurückzugeben, indem wir unsere Institutionen zurückerobern und die europäische Politik neu ausrichten, um unseren Nationen und unseren Völkern zu dienen. Souveränität vor Föderalismus, Freiheit vor Diktat und Frieden: das ist das Manifest der Patrioten für Europa.“
Mitglieder
Die 84 EP-Abgeordneten der neuen Fraktion entstammen zwölf Ländern und repräsentieren 14 Parteien. Weniger als die Hälfte der Mitgliedsparteien kommen aus der bisherigen ID-Fraktion, auch sind weitere Parteien dabei, die aus den EVP-, EKR- und Renew-Fraktionen kommen. Fidesz war seit 2021 fraktionslos. Wohl die größte Überraschung bildete bereits auf der Wiener Auftaktveranstaltung die Teilnahme der tschechischen ANO des ehemaligen Ministerpräsidenten Andrej Babiš. Seine Partei hatte die liberale Renew-Fraktion verlassen, während die spanische VOX ihre Mitgliedschaft in der EKR-Fraktion aufkündigte.
Die ungarische KDNP wiederum verließ die EVP-Fraktion und auch die EVP selbst. Die lettische Kleinpartei „Lettland Zuerst“ war in der Europäischen Christlichen Politischen Bewegung (ECPM), drei weitere Parteien, die tschechische Přísaha, die portugiesische Chega und die griechische Foni Logikis waren bisher nicht in EP vertreten. Als größte Parteidelegation im EP wird die französische Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen auch den Vorsitz der Fraktion mit der Person von Jordan Bardella stellen. Seine Partei sowie die Dänische Volkspartei, die italienische Lega, die niederländische Partei für die Freiheit, die belgische Vlaams Belang sowie die österreichische FPÖ waren bisher in der ID-Fraktion.
Für Ministerpräsident Viktor Orbán war es ein politisches Anliegen, nicht einer bestehenden Parteienformation beizutreten, sondern etwas Eigenes zu gründen. Dabei sind die Verbündeten von Fidesz keine Unbekannten. Fast alle Führungspersönlichkeiten der neuen politischen Partner waren bereits bei Viktor Orbán zu Gast und man führte regelmäßig Gespräche.
Die Ungarn betonten immer wieder, dass sich das Land um die eigene Achse drehen müsse, zu diesem Konzept passt auch, dass sich um das Gravitationszentrum Orbán die neuen Mitglieder dieser politischen Familie gruppierten. Die in der ersten Juliwoche fast im Tagestakt erfolgten Neuzugänge hatten eine sorgfältig aufgebaute Choreographie. Die größte Delegation, die französische RN, kam mit einem Paukenschlag als letzte politische Formation erst am Montag dazu. Dabei wird klar,
dass die seit Jahren vorgebrachte Politik der souveränen europäischen Nationen, der europäischen Identität und der Bewahrung der kulturellen Grundlagen keine leere Worthülse war, sondern nach den EP-Wahlen in kürzester Zeit mit Inhalt und Personal authentisch vertreten werden kann.
Viele Analysten mutmaßten, womöglich plane Orbán auch ein Zusammengehen mit der deutschen Alternative für Deutschland (AfD). Diese Spekulationen entpuppten sich aber als reines Wunschdenken vieler linksgerichteter Kreise, Viktor Orbán in die rechte Ecke stellen zu können. Vielen medialen und politischen Ferndiagnostikern unterlaufen aber immer wieder völlige Fehleinschätzungen rund um die Person des ungarischen Ministerpräsidenten und seine Politik. Meist ist immer das Gegenteil der Fall von dem, was behauptet wird. Bereits im Vorfeld der Fraktionsgründung haben die Ungarn immer wieder klargemacht, dass sie nicht mit der AfD zusammenarbeiten. Insbesondere der Rauswurf aus der alten ID-Fraktion und die mindestens zweifelhafte Beurteilung des europäischen Spitzenpersonals dieser Partei warfen nicht nur in Ungarn, aber auch in Frankreich und anderswo erhebliche Fragen auf.
Bei den diversen Vorbereitungstreffen waren die namentlichen PfE-Anwärter immer wieder zugegen, allerdings verliefen die Beratungen mit Dolmetschen in viele Sprachen außer Deutsch. Deutschland war hierbei nicht präsent, die AfD außen vor. Diese wird dem Vernehmen nach mit weiteren rechtsradikalen Parteien vor allem aus Ostmitteleuropa eine eigene Fraktion mit etwa zwei Dutzend Abgeordneten gründen wollen. Die ungarische Partnerpartei der AfD ist die rechte Opposition der Fidesz-Regierung, die rechtsradikale Partei „Unsere Heimat“ (Mi hazánk). Sie liebäugelt schon seit Längerem mit der AfD und schon aus diesem Grunde ist eine Kooperation zwischen Fidesz und AfD auf lange Sicht ausgeschlossen.
Eine Opposition im Parlament der EU?
Nicht nur Viktor Orbán und seine neue Parteienformation, sondern auch die italienische Ministerpräsidentin und EKR-Vorsitzende Giorgia Meloni sowie ihre Verbündeten kritisierten das in den Hinterzimmern zustande gekommene Personaltableau zwischen der EVP, den Sozialisten und den Liberalen. Es ist keineswegs sicher, dass dieser Vorschlag auch eine Mehrheit im EU-Parlament auf sich vereinen kann. Vor fünf Jahren siegte von der Leyen trotz einer damals breiteren Unterstützung nur mit neun Stimmen. Dieses Mal aber stimmen die kompletten EKR- und PfE-Fraktionen sowie viele andere gegen sie. Insbesondere wird von der Leyen die Stimmen der polnischen PiS und der ungarischen Fidesz nicht erhalten, damals votierten diese Parteien noch klar für von der Leyen.
Es ist davon auszugehen, dass die EKR- und PfE-Fraktionen eine enge Zusammenarbeit anstreben werden. Sie werden einen Gegenentwurf zur Kommission von der Leyens – sofern diese überhaupt gewählt wird – darstellen und einen anderen Politikentwurf in die Diskussionen einbringen. Dies ist eine folgerichtige Konsequenz aus den Entwicklungen der europäischen Politik in den letzten Jahren. Wenn die Kommission von sich behauptet, sie sei eine „politische Kommission“ und die designierte Kommissionspräsidentin es für opportun erachtet, sich politisch nur auf drei europäische Parteien verlassen zu können, muss sie mit dem Widerstand derer rechnen, denen keine Mitsprache eingeräumt wurde. In parlamentarischen Demokratien wird diese Situation als Regierung versus Opposition bezeichnet. Insbesondere die italienische Ministerpräsidentin wurde im Geleit der Personalverhandlungen draußen gelassen und ist somit nachhaltig düpiert – aber nicht nur sie, auch die Wähler der erstarkten Parteien aus dem Kreis der EKR und der PfE.
Politische Beobachter sprachen sich vor dem Austritt von Fidesz für den Verbleib der ungarischen Regierungspartei in der EVP aus, um die Abhängigkeit der Mutterpartei von linken und grünen Parteien im EU-Parlament nicht noch zusätzlich zu erhöhen und die eigene politische Gestaltungsfähigkeit nicht nachhaltig zu schwächen.
Das Ziel von Viktor Orbán war es immer gewesen, eine parlamentarische Mehrheit für die EVP auch rechts von der Mitte zu organisieren, beispielsweise als Wiederbelebung der EVP-ED.
Dies wurde aber von der EVP-Führung, vor allem wohl mit Rücksicht auf kleinere christlich-demokratische und liberale Parteien, als Option verworfen.
Der CDU kam in diesem Prozess die entscheidende Rolle zu. In der kritischen Phase der Klärung der EVP-Mitgliedschaft war die CDU aber aufgrund interner Umstrukturierungen und der Führungskrise nur bedingt handlungsfähig und in dieser wichtigen Frage letztlich gespalten. Die Brüsseler CDU-Führung setzte sich in dieser entscheidenden Angelegenheit dann durch und ebnete so letztlich langfristig unbewusst den Weg für die neue Fraktion der „Patrioten für Europa”. Eine fast schon tragische Rolle in dieser Auseinandersetzung spielte auch der EVP-Spitzenkandidat für die EP-Wahlen Manfred Weber (CSU). Er verlor 2019 den Machtkampf gegen Ursula von der Leyen um die Präsidentschaft der Kommission und machte dafür Viktor Orbán verantwortlich. Zuvor hatte er erklärt, dass er sich nicht mit den Stimmen von Fidesz in sein angestrebtes Amt wählen lassen wolle.
Die ungarische Regierungspartei tat ihm den Gefallen und sicherte mit ihren Stimmen eine Mehrheit für Frau von der Leyen. Die hastig in die EVP-Fraktion aufgenommene neue ungarische Oppositionspartei „Tisza“, die nicht einmal ein Parteiprogramm hat und in der kritischen Frage der Unterstützung der Ukraine weitgehend die Position von Fidesz vertritt, ist daher von Manfred Weber in erster Linie der Versuch einer Schadensbegrenzung und kann wohl auch als Affront in Richtung Viktor Orbán interpretiert werden. Der ohne Rücksicht auf die „Opportunitätskosten” provozierte Austritt von Fidesz aus der EVP war ein wichtiger Impuls für eine politische Dynamik, deren Auswirkungen auf die politische Entwicklung in Europa heute noch nicht vollständig absehbar sind.
Ungarische Ratspräsidentschaft
Die am 1. Juli 2024 begonnene ungarische Ratspräsidentschaft der EU steht unter dem Motto „Make Europe Great Again“ (MEGA) und fokussiert sich auf sieben Pfeiler, die EU stärker und handlungsfähiger zu machen und zu seiner alten wahren Größe zurückzuführen. Davon kündet auch die Friedensmission von Viktor Orbán, der in den ersten Tagen der EU-Ratspräsidentschaft mit Selenskyj, Putin, Erdoğan, Xi Jinping und Biden zusammenkam und persönlich sprechen konnte.
Damit hat er unter den westlichen Staatsmännern schon ein Alleinstellungsmerkmal.
Der Überlegung, möglichst rasch in Verhandlungen mit den führenden Mächten der Welt einzutreten, liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Europäer ihren strategischen Handlungsrahmen selbst entwickeln und sich nun intensiv für den Frieden in der Ukraine einsetzen müssten.
Das Zeitfenster sei knapp, denn ein US-Präsident Trump werde die Belange der Europäer kaum mehr ernstnehmen, stattdessen über die Köpfe der Ukrainer hinweg mit Putin verhandeln. Daher sei es nun an der europäischen Diplomatie, die Ukrainer zu Friedensverhandlungen mit Russland zu bewegen. Hierbei könne Europa stark und handlungsfähig werden und diese neue Größe zur Entfaltung kommen lassen. Auch hiervon handelt das Motto der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft.
Die Ungarn sind sehr für Europa, davon kündet das regierungsamtliche ungarische EU-Programm und auch das parteipolitische Bekenntnis, als stolze Patrioten für ein souveränes und autonomes Europa einzutreten.
Diese Feststellung geht Hand in Hand mit der Rekordwahlbeteiligung bei den EU-Wahlen in Ungarn. 60 Prozent der Menschen gaben ihre Stimme ab, so viele wie noch nie. Dabei erhielten die ungarischen Regierungsparteien 45 Prozent der abgegebenen Stimmen, was europaweit das zweitbeste Ergebnis ist. Mit diesem Resultat hätte Fidesz-KDNP in einem nationalen Urnengang wieder die parlamentarische Zweidrittelmehrheit erhalten.
Die ungarische Ratspräsidentschaft koinzidiert mit dem institutionellen Übergang, was auch die Formation der politischen Fraktionen im EU-Parlament umfasst. Befürchtungen, die parteipolitischen Aspirationen von Fidesz stünden im Widerspruch, im Gegensatz oder im Konflikt mit der regierungsamtlichen EU-Ratspräsidentschaft, sind unsubstantiierte Befürchtungen. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob Viktor Orbán als Fidesz-Parteivorsitzender oder als ungarischer Regierungschef auftritt. Diese feinen Zwischentöne sollten Kenner der europäischen Parteipolitik eigentlich kennen.
Nach dem Bekenntnis der Ungarn – und übrigens auch den europäischen Verträgen – sind
die Staats- und Regierungschefs die eigentlichen Entscheider, die Kommission ist eine Versammlung von bezahlten Angestellten, die die Entscheidungen des Europäischen Rates exekutieren sollten.
Aus diesem Grund besteht also kein Widerspruch zwischen der von einem Mitgliedsland ausgeführten Ratspräsidentschaft und dessen politischen Entscheidungen und einem rein parteipolitischen Wettstreit vieler politischer Ideen in einem politischen Gremium wie dem Europäischen Parlament.
Fazit
Mit den „Patrioten für Europa“ entstand die drittgrößte Fraktion im EU-Parlament. Sie ist keine reine Fortsetzung der alten ID-Fraktion, weniger als die Hälfte ihrer Mitglieder waren in der alten Fraktion, wenn auch viele ihrer maßgeblichen Parteien – RN, FPÖ, Lega, Freiheitspartei – natürlich die starke Basis der ID-Fraktion bildeten. Vielmehr zirkulierten auch diese Parteien um die von Viktor Orbán formulierte Idee einer Neuaufstellung des konservativen Lagers. Mit der nicht durch die AfD-Vergangenheit belastete PfE-Fraktion kann und wird sich die EKR-Fraktion eng verbünden und einen Gegenentwurf zur aktuellen europäischen Politik formulieren. Dabei werden Viktor Orbán und Giorgia Meloni auch im Europäischen Rat an einem Strang ziehen.
Die Ungarn weisen in der europäischen Parteipolitik auch schon deshalb den Weg, weil sie in dieser neuen Fraktion eine der ganz wenigen Regierungsparteien sind, die einen eigenen reichhaltigen Erfahrungsschatz in konservativer Programmatik in Theorie und Praxis vorweisen können. Das Politikangebot von Viktor Orbán wurde vom Wähler viermal hintereinander mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit ausgestattet und die markante Politikgestaltung der ungarischen Regierung wirkt für viele Konservative in Europa wie ein beruhigender Gegenentwurf zur EU-Politik wie auch zur Politik der deutschen Ampelregierung.
Autor, Dr. Bence Bauer ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium in Budapest/Ungarn.
Dieser Beitrag erschien zuerst: https://www.tichyseinblick.de/gastbeitrag/patrioten-fuer-europa-orban/