11. Juli 2024 Tichys Einblick
Eine ukrainische Zeitung hat Passagen aus einem Brief Viktor Orbáns an EU-Ratspräsident Charles Michel veröffentlicht. Darin berichtet Orbán von seinem Gespräch mit Russlands Präsident Wladimir Putin, analysiert die Gesamtlage und regt an, möglichst schnell eine europäische Friedensinitiative anzustoßen. Der Brief wirft die Frage auf, ob Michel nicht doch eingeweiht war in Orbáns Reisepläne.
Die ukrainische Zeitung Jevropejska Pravda hat Passagen aus einem angeblichen Brief des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán an EU-Ratspräsident Charles Michel veröffentlicht. Die Zeitung gibt an, dass der vom 5. Juli datierte Brief ihr vorliegt. Der Bericht wurde am Morgen des 9. Juli vom ungarischen Nachrichtenportal Index.hu mehr oder minder komplett übernommen.
In dem Brief berichtet Orbán von seinem Gespräch mit Putin und regt eine europäische Friedensinitiative an, da die USA derzeit nicht in der Lage seien, eine weltpolitische Führungsrolle zu spielen.
Zunächst betont Orbán in dem Brief (alle Zitate sind der ukrainischen Zeitung entnommen), er habe gegenüber Putin „keinerlei Vorschlag unterbreitet und keinerlei Meinung geäußert im Namen des Europäischen Rates oder der Europäischen Union. Anderslautende Medienberichte seien „gegenstandslos”.
Dann stellt er fest, dass Putins Sicht auf den Krieg „beträchtlich von Zelensky’s Analyse abweicht”.
„Was die ukrainischen Verluste betrifft, so schätzt die russische Seite die monatlichen Verluste der ukrainischen Streitkräfte auf 40.000 – 50.000 Soldaten, welche in den letzten Wochen noch gestiegen seien. Deswegen war Putin überrascht, dass der ukrainische Präsident den Vorschlag bezüglich eines vorübergehenden Waffenstillstands ablehnte”,
heisst es der Zeitung zufolge in dem Brief.
Der erwähnte Waffenstillstand dürfte sich auf Orbáns eigenen Vorschlag beziehen, den er am 2. Juli während seines Gesprächs mit Zelensky in Kiew unterbreitet hatte.
In dem angeblichen Brief soll Orbán die Auffassung äußern,
wenn dieser so beschlossen werde, dass er der Ukraine nicht zur „heimlichen Umgruppierung und Umorganisierung ihrer Kräfte diene”.
Dann folgt laut der ukrainischen Zeitung eine Passage, wonach Russland nur das 2022 in Istanbul ausgehandelte Dokument für einen Friedensschluss als Ausgangspunkt akzeptiere, „insbesondere der fünfte Punkt” besagten Dokumentes, „welcher die internationalen Sicherheitsgarantien für die Ukraine definiert”. (Die ukrainische Zeitung führt hierzu aus, dass es darin um die Garantiemächte für eine Friedenseinigung geht, und dass Russland forderte, zu diesen Garantiemächten zu zählen).
Des weiteren heißt es in dem angeblichen Brief, Russland sei „bereit zu einem Meinungsaustausch” über den gemeinsam von China und Brasilien vorgelegten Friedensvorschlag, in dem zwar von Friedensverhandlungen die Rede ist, nicht aber von einer territorialen Integrität der Ukraine.
Nach dieser inhaltlichen Zusammenfassung des Gesprächs fügt Orbán eine Analyse der Lage an und drängt auf eine möglichst baldige europäische Friedensinitiative. Europa brauche Frieden, aber die Chancen dafür würden immer geringer, weil „die diplomatischen Kanäle abgeschnitten sind und es keinen direkten Dialog zwischen den Akteuren gibt”.
„Angesichts der Eskalation der Feindseligkeiten und der Zunahme der Opfer schwindet die Zeit”, heißt es der Zeitung zufolge in dem Brief.
„Wenn wir diesen Prozess nicht stoppen können, dann werden wir in den nächsten zwei Monaten Zeugen noch viel dramatischerer Ereignisse und Verluste an der Front sein.”
Zum Schluss meint er, die USA seien derzeit wegen des dortigen Wahlkampfs nicht in der Lage, in dieser Frage eine „führende politische Rolle” zu spielen. Insofern sei es ratsam, eine „europäische Initiative” zu erwägen, im Sinne einer „europäischen Autonomie” in der Weltpolitik.
Soweit der Zeitungsbericht. Wenn er inhaltlich stimmt, dann ergeben sich daraus zwei interessante Einsichten: Russland ist bereit zum Waffenstillstand, und Orbán versucht tatsächlich, wenn auch informell, die europäische Außenpolitik aktiv zu gestalten.
Der Brief wirft zudem die Frage auf, ob Michel nicht doch eingeweiht war in Orbáns Reisepläne.