31. Mai 2025 Magyar Hírlap – Balázs Horváth
Der 882 Meter hohe Berg, Írott-kő (Geschriebenstein) ist der höchste Punkt des Günser Gebirges am Ostrand der Alpen. Der Name Írott-kő ist mehrere hundert Jahre alt und bezieht sich auf den jahrhundertealten Grenzstein zwischen den Ländereien zweier ungarischer Adelsfamilien, der Batthyánys und der Esterházys. Heute bildet er die Grenze zwischen Österreich und Ungarn. Diese Grenze wurde nach dem Ersten Weltkrieg gezogen, und die Westseite des Berges wurde von Ungarn an Österreich übertragen. Die österreichisch-ungarische Monarchie verlor den Krieg, aber Ungarn scheint den Krieg noch viel mehr verloren zu haben als Österreich.
Anlässlich des 100. Jahrestages des Bestehens des Burgenlandes als Teil von Österreich wurde auf der österreichischen Seite des Írottkős ein großes weißes Kreuz aufgestellt. In leuchtenden Farben gemalte Worte sind darauf zu lesen. Der größte Schriftzug, der sofort ins Auge sticht, ist „Stolz“. Zahlreiche andere Wörter sind in kleineren Buchstaben auf dem Kreuz eingemeißelt, sogar in der Sprache der burgenländischen Minderheiten. Auf Ungarisch ist zum Beispiel das Wort „hazám“ (meine Heimat) zu lesen. Am Grenzübergang steht ein Aussichtsturm, von dem aus sich ein herrliches Panorama bietet: im Westen die Gipfel der österreichischen Alpen, im Osten, soweit das Auge reicht, die flache Landschaft Ungarns. Bei gutem Wetter kann man sogar den Somló nördlich des Plattensees erblicken, einen schönen Zeugenberg aus geologischer Zeit und ein Ergebnis ehemaliger vulkanischer Tätigkeit.
Der Aussichtsturm beherbergt eine Ausstellung über den Ersten Weltkrieg und seine Nachwirkungen. Die zweisprachigen (deutschen und ungarischen) Inschriften zeigen unter anderem, dass Österreich nach dem Ersten Weltkrieg 87 % seines Territoriums verlor. Diese Zahl ist nur dann zu verstehen, wenn ganz Ungarn als Teil Österreichs betrachtet wird. So gesehen behielt Österreich tatsächlich nur einen „sehr bescheidenen“ Teil Ungarns. Vielleicht hätte man auf das Kreuz schreiben sollen: „Bescheidenheit“. Oder vielleicht „Genügsamkeit“. Auch das wäre für mich weniger provokativ als die jetzigen Inschriften. Immerhin war es Österreich, das Ungarn in einen Krieg gezwungen hat, über den der damalige ungarische Ministerpräsident István Tisza sagte, dass wir nichts zu gewinnen und alles zu verlieren hätten. Aber Tisza rechnete wohl nicht damit, dass Österreich, als wirklich alles verloren war, sich den Plünderern der Monarchie anschließen und seinen Anteil an unserem Heimatland fordern würde. Und dies dann 100 Jahre später als „Stolz“ und „meine Heimat“ bezeichnen würde. Vielleicht hätten wir zum 100. Jahrestag ebenso ein Denkmal errichten können. Zum Beispiel eine Nachbildung der Säule, welche die Österreicher auf dem Brennerpass errichtet haben. Darauf steht nämlich: „Südtirol war nie Italien“.
Zur Wahrheit gehört, dass die Grenze im Burgenland von allen Trianon-Grenzen, durch die Ungarn beschnitten worden war, tatsächlich die einzige gewesen ist, die den ethnischen Verhältnissen folgte. Obwohl Österreich ursprünglich ein größeres Gebiet beansprucht hatte, mit Pozsony (Pressburg/Bratislava), Kőszeg (Güns) und Sopron (Ödenburg), den mehrheitlich deutschen Städten in Westungarn. Letztendlich war Sopron mit seiner Umgebung die einzige Region in ganz Mitteleuropa, die über das eigene Schicksal entscheiden durfte. Das Referendum wurde eindeutig von Ungarn gewonnen. Seitdem fragen sich die klugen Köpfe immer wieder, wie das passieren konnte. Die Österreicher sagen, die Ergebnisse seien gefälscht worden, die ungarischen Historiker behaupten, die Bewohner der Stadt Sopron hätten Angst vor den hohen Lebensmittelpreisen in Österreich gehabt. Diese Erklärungen sind kaum überzeugend. Das Plebiszit wurde von der Entente überwacht und es ist unwahrscheinlich, dass sie gerade Ungarn bevorzugt hätte. Das Argument der ungarischen Historiker scheint überzeugender zu sein und erklärt, warum sich die Mehrheit der Dörfer für Österreich entschied. Zumindest die katholischen deutschen Dörfer taten dies. Denn die ungarischen, kroatischen und die protestantischen deutschen Dörfer entschieden sich für Ungarn. Vielleicht ist die Frage der Identität doch etwas komplexer als Brotpreise.
Wie ist es möglich, dass in „Deutsch-Westungarn“, wie die Österreicher dieses Gebiet nachträglich nannten, so wenige Ungarn lebten? Da dieses Gebiet ursprünglich gar keinen eigenen Namen besaß, wurde nachträglich die ungarische Version „Őrvidék“ („Wachgebiet“, Grenzschutzgebiet) angehängt. Ungarn war im Vergleich zu Westeuropa im Allgemeinen sehr dünn besiedelt. Die Randgebiete, die so genannten „Ödländer“, waren noch weniger bewohnt. Die wenigen Siedlungen im Ödland wurden von Grenzwächtern bevölkert, deren Aufgabe es war, die Grenze zu bewachen, die Überfälle abzuwehren. Im Gegenzug für diese Dienste waren sie ausschließlich dem König unterstellt und von der Steuer befreit. Vom 13. bis 14. Jahrhundert schenkten die ungarischen Könige ihren Vasallen das westliche Ödland mit der Auflage, dort Burgen zu bauen, um Angriffe aus dem Westen abzuwehren. Auf diese Weise entstanden die Burgen von Lándzsér (Landsee), Léka (Lockenhaus), Fraknó (Forchtenstein) und Németújvár (Güssing). Die Herrschaften benötigten Leibeigene, um die wirtschaftliche Grundlage für diese befestigte Verteidigungslinie zu schaffen. Von den fruchtbaren Tiefebenen Ungarns aus betrachtet, waren diese steinigen Hügel und Berge nicht besonders attraktiv. Von den Alpen aus gesehen ist diese Landschaft jedoch noch sehr brauchbar und wird von Frühjahr bis Spätherbst bewirtschaftet. Daher ist es kein Wunder, dass viele Deutsche ihr Glück gerade hier fanden. Der Prozess der Umsiedlung wurde durch die Türkenkriege noch beschleunigt, als neue deutschsprachige Siedler aus dem Westen und andere – die Kroaten – aus dem Süden eintrafen. Wie in vielen Teilen des historischen Ungarns begannen die Ungarn im 17. und 18. Jahrhundert auch hier in der eigenen Heimat zur Minderheit zu werden. 1910 war der Anteil der Ungarn bereits auf 9-10 % gesunken. Heute, 100 Jahre später, sind es nur noch etwa 1 %, und selbst diese wenigen bezeichnen sich nicht als Ungarn, sondern als ungarischsprachige Österreicher. Ein Deutscher in Ungarn hat es mir einmal so erklärt: Das letzte Stadium vor der vollständigen Assimilation sei, wenn die Minderheit die Narrative der Mehrheit über sich selbst akzeptiere.
Wenn man im deutschsprachigen Internet die Geschichte der burgenländischen Dörfer nachschlägt, wird man nichts dergleichen lesen. Stattdessen erfährt man, dass hier einst Kelten lebten. Dann ist Karl der Große im 9. Jh. zweimal durchmarschiert (einmal zur Vernichtung des Awaren-Khaganats und einmal nach dessen Zerschlagung), und dann kam die Zwangsmagyarisierung im 19. Jahrhundert, als die Ungarn die deutschsprachige Bevölkerung unterdrückten. Die beiden Vorwürfe, die man immer wieder liest, sind, dass Ungarisch Pflichtfach in den Schulen war und dass Ortsnamen auch auf Ungarisch ausgeschildert werden mussten. Wenn ich diese Vorwürfe lese, dann fühle ich mich komisch. Ist es möglich, dass unsere österreichischen Freunde die Absurdität der Situation nicht erkennen? Denn heute, im Burgenland des 21. Jahrhunderts, wird in allen Schulen auf Deutsch als Pflicht- und Amtssprache unterrichtet. Dass in einigen Volksgruppenschulen die Minderheitensprache nicht nur als Fremdsprache, sondern auch als Unterrichtssprache verwendet wird, ist eine relativ junge Entwicklung in Österreich. Warum wird dann die viel liberalere Bildungspolitik des 19. Jahrhunderts in Ungarn als Mittel der Unterdrückung gesehen? Das Gleiche gilt für die Ortsnamen. Heute gilt es als Zeichen der Toleranz, dass Orte, die von Minderheiten bewohnt werden, auch den Namen dieser Minderheit tragen, selbstverständlich an zweiter Stelle. Warum heißt es dann Magyarisierung, wenn im historischen Ungarn eine ähnliche Praxis angewandt wurde? Und überhaupt, wenn ganz Ungarn zum österreichischen Kaiserreich gehörte, wie konnten dann die Ungarn die Österreicher unterdrücken?
Und dann die historische Lücke von etwa eintausend Jahren. Was geschah zwischen Karl dem Großen und der Magyarisierung? Im Jahr 2020 wurde das Burgenland 100 Jahre alt, und man hat das auch ordentlich gefeiert. 1000 Jahre Ungarn sind aber keine Erwähnung wert? Das ungarische Sopron ist stolz auf seine deutsche Vergangenheit, aber in den „österreichisierten“ Dörfern des Burgenlandes gibt es keine Spur der ungarischen Vergangenheit. Bleibt man an einem Schild stehen, das die Geschichte eines burgenländischen Dorfes erzählt, findet man weder das Wort ungarisch noch Ungarn. Es heißt, dass das Dorf vor 790 Jahren erstmals erwähnt wurde, aber nicht, dass dies in einer ungarischen Urkunde geschah. Im Dorf wird ein wunderschönes Schloss aus dem 18. Jahrhundert beschrieben, aber die Tafel verrät nichts über dessen ungarischen Erbauer.
Im Burgenland ist es auch üblich, den Opfern des Ersten und Zweiten Weltkriegs mit Mahnmalen zu gedenken. In ungarischen Dörfern wurden diese Denkmäler nach dem Ersten Weltkrieg in ungarischer Sprache errichtet. Die Namen sind ebenfalls typisch ungarische Namen, wie sie überall in Westungarn auf ähnlichen Denkmälern zu finden sind. Die Gedenktafel für die Opfer des Zweiten Weltkriegs ist dagegen in deutscher Sprache. Die Namen der Gefallenen sind ebenfalls in deutscher Sprache und haben keinerlei Ähnlichkeit mit der Namensliste 25 Jahre zuvor. Was ist hier passiert? Es gab den Anschluss, die Österreicher wurden deutscher als die Deutschen, und die Germanisierung wurde auch auf die nationalen Minderheiten ausgedehnt. Ähnlich verhält es sich auf den Friedhöfen: In den ehemaligen ungarischen Dörfern tragen selbst die älteren Grabsteine keine ungarischen Namen mehr. An den Wänden der traditionellen Gasthäuser hängen Bilder ihrer Vorfahren: karierte Hemden, kurze Lederhosen und Strümpfe. Lederhosen in Ungarn? Einen solchen Grad der Auslöschung der ungarischen Vergangenheit habe ich bisher nur in Rumänien gesehen, und ich habe es auf das mangelnde Selbstbewusstsein der Rumänen zurückgeführt. Aber was ist der Grund für diese Entwicklung in Österreich?
In Westungarn wird die Vergangenheit anders erlebt: Gedenktafeln, Denkmäler und Friedhofskreuze spiegeln die Welt der Menschen wider, welche dort lebten: Überall stehen deutsche Namen. Sopron ist stolz auf seine deutsche Vergangenheit: Selbst in den winzigsten Gassen sind die Schilder zweisprachig. „Deutsche Nationalitätenschule Ödenburg“ steht in großen Buchstaben auf einem neu renovierten Gebäude in der Straße, in der ich wohne. Es wird tatsächlich in deutscher Sprache unterrichtet und man kann die Matura auf Deutsch ablegen, obwohl die Schule nicht nur von Schülern deutscher Herkunft besucht wird.
Überall gibt es Spuren der deutschen Kultur, aber die Menschen selbst fehlen dazu. 1946, fünfundzwanzig Jahre nachdem die Deutschen von Sopron die Stadt für Ungarn gerettet hatten, wurden sie von den ungarischen Behörden deportiert. Natürlich ist es leicht, Ausreden zu finden: zum Beispiel, dass es die Kommunisten waren, die das getan haben, oder dass es die Sowjets waren, welche die Ungarn dazu zwangen. Aber die Tatsache bleibt eine Tatsache. Civitas Fidelissima (die „treueste Stadt“) hatte damit einen faden Beigeschmack bekommen.
So bin ich zu dem Schluss gekommen, dass alles Ungarische – bis auf die kleinen Sprachinseln – im Burgenland verschwunden ist, nicht einmal die Erinnerungen sind geblieben. Ich arbeite in einem Industriepark im Burgenland. Ein paar hundert Meter entfernt beginnt der Esterházy-Wald, manchmal gehe ich in meiner Mittagspause dorthin, um den Kopf freizubekommen. Einmal, als ich an einem älteren Herrn vorbeiging, habe ich einen Gruß gemurmelt. Der alte Mann blieb stehen und sah mich an. Ich merkte erst dann, dass ich ihn versehentlich auf Ungarisch gegrüßt hatte. Ich entschuldigte mich. Der alte Mann lächelte, kam näher und nahm mich an die Schulter. Dann begann er zu reden. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich merkte, dass er ein deutsches Gedicht aufsagte. Das Gedicht handelte von einem Mann, der spazieren geht: Das Wetter ist schrecklich, die Landschaft ist schrecklich, der Mann fühlt sich schrecklich, einsam und kalt. Dann kommt jemand und sie grüßen sich. Plötzlich fühlt sich der Mann besser. Er bemerkt, dass die Vögel singen, der Himmel sich aufhellt, die Sonne scheint, die Landschaft grün und freundlich ist. Was ist passiert? – fragt sich der Mann. Dann wird ihm plötzlich klar, dass all das daran liegt, dass er gerade auf Ungarisch gegrüßt wurde. Der alte Mann stieß zum Abschied gegen seine Hutkrempe und ging weiter. Ich blieb wie angewurzelt stehen und war mir nicht mehr sicher, ob ich je etwas vom Burgenland verstanden hatte.
Autor, Dr. Balázs Horváth ist Umweltingenieur
MAGYARUL: https://www.magyarhirlap.hu/velemeny/20250531-szaz-ev-burgenland
Bild: Aussichtsturm auf dem Gipfel des Írottkő. Erbaut 1913 in Ungarn. Seit 1922 markiert der Turm die Grenze nach Trianon, von 1946 bis 1990 verlief hier der Eiserner Vorhang.