27. Juli 2024 Preußische Allgemeine Zeitung von Tristan Csaplár
Am 4. Juli 1954, vor 70 Jahren, ereignete sich das wohl berühmteste Ereignis der deutschen Fußballgeschichte – das sogenannte Wunder von Bern. Im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft von 1954 konnte sich die nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals wieder startberechtigte deutsche Nationalmannschaft gegen die als haushohe Favoriten geltenden Ungarn durchsetzen. Des einen Freud, des anderen Leid.
Das „Wunder von Bern“ 1954 gilt als zweite Geburtsstunde der Bundesrepublik. Für die unterlegenen Ungarn bedeutete es den Anfang großer Unruhen. Das gilt auch für die zuvor als „Goldene Elf“ gefeierte Nationalmannschaft
Der 3:2-Sieg der deutschen Elf nach einem anfänglichen Rückstand von 0:2 zählt zweifelslos zu den besonderen Ereignissen der Fußballgeschichte.
Vielmehr noch trug das „Wunder von Bern“ dazu bei, das nationale Selbstbewusstsein der Deutschen nach dem verlorenen Krieg wiederaufzubauen,
und beförderte damit sowohl das Selbstwertgefühl als auch die Identifikation vieler Westdeutschermit der noch jungen Bundesrepublik. Zum „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegsjahre gesellte sich nun auch ein sportliches Wunder.
Doch während der überraschende Sieg der als Außenseiter geltenden deutschen Nationalmannschaft „Balsam für die deutsche Seele“ war, löste die unerwartete Niederlage in Ungarn einen Sturm der Enttäuschung und Entrüstung aus. Im Land der Magyaren, das ebenso wie Deutschland ein Verlierer des Zweiten Weltkriegs gewesen, zudem gegen seinen Willen in den Ostblock gezwungen worden war und nun von der kommunistischen Partei beherrscht wurde, brach sich in Folge der Niederlage ein in der Bevölkerung lange aufgestauter Unmut Bahn. Wie so oft gilt auch hier, dass des einen Freud des anderen Leid ist.
Die Hochphase des ungarischen Fußballs
Die „Goldene Elf“ des ungarischen Fußballs und die mit ihr verbundene Hochphase der Fußballgeschichte des Landes wird aus heutiger Sicht oft als eine Art Anomalie wahrgenommen. Dies ist jedoch nicht korrekt, da es sich vielmehr um den Höhepunkt einer langfristigen Entwicklung handelt, welche anschließend in einem Wirrwarr aus Enttäuschung und politischer Einflussnahme endete.
Die Anfänge des Fußballs in Ungarn unterscheiden sich dabei gar nicht so sehr von denen in Deutschland – gleichwohl der Fußball in Teilen der deutschen Bevölkerung selbst nach 1945 noch als Sport der Proletarier angesehen wurde. In Ungarn öffnete sich der 1888 gegründete bourgeois-jüdische MTK (Magyar Testgyakorlók Köre) bereits zur Jahrhundertwende dem Fußball, und auch die gutsituierten und intellektuellen Schichten der ungarischen Hauptstadt wandten sich mit Begeisterung dem Ballsport zu.
In Ungarn galt der Fußball als modern, gar avantgardistisch, kam er doch aus der damals fortschrittlichsten Nation der Welt – Großbritannien. Die Ungarn revolutionierten den Sport in den folgenden Jahren, und der Trainer des MTK, der Engländer Jimmy Hogan, wurde zum Gründungsvater der sogenannten Donau-Schule. Er wird noch heute als Pionier des modernen Fußballs betrachtet.
Nicht nur die ungarischen Spieler und Vereine feierten Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Erfolge, auch die Trainer des Landes waren zu jener Zeit global aktiv und hochgefragt.
Sie beeinflussten die Entwicklung des Fußballs weltweit, angefangen von den Niederlanden über Spanien bis hin zu den Vereinen in Argentinien und Brasilien. Auch in der italienischen Liga waren die ungarischen Trainer stark präsent und zwischen 1920 und 1945 waren insgesamt 60 ungarische Übungsleiter in Italien tätig.
Fußball als Opium für das Volk
Die Blütezeit der Vor- und Zwischenkriegsjahre setzte sich zunächst auch nach dem Zweiten Weltkrieg fort, wurde jedoch zunehmend von den neuen politischen Machthabern für ideologische und politische Zwecke vereinnahmt.
Nach dem Krieg entdeckte das stalinistische Regime von KP-Generalsekretär Mátyás Rákosi den Fußball für sich und investierte, nach Popularität und Zustimmung strebend, große Summen in den Sport.
Nicht Religion, sondern Fußball sollte zum Opium für das Volk werden.
Tatsächlich bot der Ballsport den Menschen eine gewisse Kompensation für die zahlreichen Missstände im Land, ein Phänomen, welches sich noch heute in vielen Ländern unter anderem in Lateinamerika beobachten lässt.
Die wachsende Einflussnahme der Politik auf den Sport führte zu einer zunehmenden Politisierung und Instrumentalisierung des Fußballs. Das Spielfeld wurde zu einem Austragungsort der Auseinandersetzung zwischen West und Ost, zu einem symbolischen Schlachtfeld zwischen Kapitalismus und Kommunismus – ein Kampf, den es aus kommunistischer Sicht um jeden Preis zu gewinnen galt.
Misstrauen der Machthaber
Die bestehende Fußball- und Vereinskultur wurde von den neuen Machthabern jedoch stets kritisch betrachtet, und in vielen Aspekten wurden Versuche unternommen, sie nach den eigenen politischen Vorstellungen zu formen.
So mussten Fußball-Clubs ihre althergebrachten Farben und Namen aufgeben, wodurch ihre individuelle Identität und Kultur gebrochen oder zumindest verwässert wurden.
Zwei Vereinen im Besonderen wurde eine Verbindung zu den sogenannten Volksfeinden unterstellt, im Falle von MTK zur jüdischen Bourgeoisie und im Falle von Ferencváros zu nationalistisch-rechten Bewegungen. Bei beiden Vereinen sollten diese Bindungen und Identitäten durch die oben erwähnten Maßnahmen zurückgedrängt werden. 1950 wurde MTK daher kurzerhand zu „Textile“, die Mannschaft der Textilarbeitergewerkschaft, und Ferencváros wurde in ÉDOSZ, den „Verein der Arbeiter der Nahrungsmittelbranche“, umbenannt.
Die Spieler aller Mannschaften wurden im Zuge dieser Entwicklungen zu Repräsentanten des kommunistischen Regimes, und der Sport hatte sowohl Volk und Land als auch der Idee des Kommunismus zu dienen.
Und die „goldenen Elf“ der ungarischen Nationalmannschaft waren somit nicht nur Sportler oder Privatpersonen, sondern wurden vielmehr Teil des Staats- und Propagandaapparates – die allermeisten von ihnen unfreiwillig.
Die „Goldene Elf“
Dies lässt sich auch daran erkennen, dass alle Spieler des Vereins Budapest Honvéd, dem offiziellen Verein der Ungarischen Volksarmee, einen militärischen Rang erhielten und somit auch ein Teil der Volksarmee wurden. Der Trainer der ungarischen Nationalmannschaft, Gusztáv Sebes, war zugleich stellvertretender Verteidigungsminister. Die Spieler des Fußballklubs Újpest, dem Verein der ungarischen Polizei, waren wiederum formal auch Mitglieder der ungarischen Polizei.
Galionsfigur von Honvéd und der „Goldenen Elf“ gleichermaßen war das fußballerische Wunderkind Ferenc Puskás, der vom Regime und Volk gleichermaßen geliebte Sohn einer Proletarierfamilie aus Kispest. Als Spieler des Fußballklubs Budapest Honvéd wurde demnach auch Puskás ein militärischer Dienstgrad verliehen. Der Rang des Offiziers brachte dem Ausnahmefußballer den Spitznamen „der galoppierende Major“ ein.
Die Rechnung der kommunistischen Führung schien anfänglich aufzugehen.
Die sportlichen Erfolge der ungarischen Nationalmannschaft gaben der von der Geschichte gebeutelten Nation etwas Selbstbewusstsein zurück. Die Ungarn identifizierten sich mit der „Goldenen Elf“,
und die Erfolge machten die Bevölkerung handzahm, genau wie es sich das Regime erhofft hatte.
Nach der Niederlage von Bern
Mit der überraschenden Niederlage im Finale der Weltmeisterschaft vom 4. Juli 1954 verkehrte sich der Effekt jedoch schlagartig ins Gegenteil und wurde für Regime wie Mannschaft zum Problem.
Die Enttäuschung über die unerwartete Niederlage der zuvor vier Jahre lang ungeschlagenen und bei den Spielen von 1952 Olympiasieger gewordenen ungarischen Nationalmannschaft war immens, und mit der Frustration über die spielerische Leistung der „Goldenen Elf“ brach sich auch der aufgestaute Frust über die politische und wirtschaftliche Lage Bahn, welcher zuvor durch die sportlichen Erfolge niedergehalten worden war. Die Spieler mussten regelrecht nach Hause geschmuggelt werden, stiegen teilweise frühzeitig aus dem Zug und wurden anschließend mit dem Auto zurückgefahren, da sie in der aufgeheizten Stimmung den Zorn der enttäuschten Menge fürchteten.
Der Schlusspfiff des Finales von Bern wurde somit zum Anpfiff für die erste Welle landesweiter Proteste gegen das kommunistische Regime von Mátyás Rákosi, welche die Staatsschutzbehörde erst nach mehreren Tagen wieder vollständig unter Kontrolle bekam.
Wenn in Deutschland das „Wunder von Bern“ zuweilen als das „eigentliche Gründungsdatum der Bundesrepublik“ bezeichnet wird, dann kann in der Niederlage von 1954 und den darauffolgenden Protesten bereits die Saat des ungarischen Volksaufstandes von 1956 gesehen werden.
Der Ausbruch ebenjenes Volksaufstandes besiegelte das Ende sowohl der „Goldenen Elf“ als auch des ungarischen Fußballs auf Weltklasseniveau. Nach der Niederschlagung der Revolution 1956 durch die Sowjetische Armee und der Wiederherstellung der kommunistischen Herrschaft löste sich die „Goldene Elf“ endgültig auf, da es viele Spieler aufgrund der drohenden Repressalien nicht wagten, nach Ungarn zurückzukehren. Zu jenen, die beschlossen, nicht zurückzukehren, sondern zu dissidieren, gehörte auch Ferenc Puskás. Andere, wie Torwart Gyula Grosics, kehrten trotz drohender Repressionen in ihre Heimat zurück.
Die geflohenen Spieler konnten jedoch zunächst ihre sportlichen Karrieren im Ausland nicht fortsetzen, da der ungarische Fußballverband aufgrund ihres Status als Dissidenten eine Sperrung beim Weltverband FIFA beantragte. Puskás fand seine neue sportliche Heimat schließlich im rechtsgerichteten Spanien Francisco Francos, wo er als politisch Verfolgter des Kommunismus mit offenen Armen willkommen geheißen wurde. Von 1958 bis 1966 spielte er für Real Madrid und erreichte zahlreiche sportliche Erfolge, darunter dreimal den Europapokal der Landesmeister.
Puskás sollte jedoch ebenso wie viele seiner Mannschaftskameraden nie wieder für die ungarische Nationalmannschaft aufs Feld laufen. Die ungarische Fußballkultur, die Tradition der großen Vereine, Spieler und Trainer war zerbrochen.
Triumph des Sports
Das kommunistische Regime ging entschlossen gegen das Andenken der ehemaligen Nationalhelden vor und versuchte, sie aus der Erinnerung zu verbannen. Letztendlich erfolglos, doch der Schaden war angerichtet.
Dass der Mythos der „Goldenen Elf“ letztlich stärker war als die Verbannungsversuche der Kommunisten zeigt sich am Schicksal Gyula Grosics‘. Jahrzehnte später beschrieb der Torwart seine Rückkehr nach dem verlorenen Finale: wie die Mannschaft noch vor Budapest den Zug verlassen musste und in ein Trainingslager gebracht wurde, das sie nicht verlassen durfte. Und wie dann Generalsekretär Rákosi mit dem Innenminister, dem Verteidigungsminister und hochrangigen Leuten der ungarischen Staatssicherheit kam und Rákosi sagte, auch der zweite Platz sei ein schönes Ergebnis, weshalb niemand Angst haben solle, bestraft zu werden. „Als dieser Satz fiel“, so Grosics, „wusste ich, dass er genau das Gegenteil bedeutete. … Ich wusste, sie hatten es auf mich abgesehen.“ Der Torwart behielt recht.
Er wurde verhaftet und sogar wegen angeblicher Spionage vor Gericht gestellt, ohne zu sagen, für welches Land er spioniert haben soll. Es folgten ein Hausarrest, monatelange Drangsalierungen und Verhöre durch die kommunistischen Machthaber sowie die Versetzung zu einem Provinzverein. Sogar sein Vater wurde mit dem Verlust des Arbeitsplatzes bestraft.
Doch als Grosics am 13. Juni 2014 starb, wurde er vom heute bürgerlichen Ungarn wie ein Heiliger in der Budapester St.-Stephans-Basilika beigesetzt.
Tristan Csaplár ist Forschungskoordinator am Deutsch-Ungarischen Institut für Europäischen Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium (MCC). www.mcc.hu; https://magyarnemetintezet.hu/de/
Quelle: https://paz.de/artikel/der-deutschen-freud-der-ungarn-leid-a11675.html