10. Juni 2024 Deutsch-ungarisches Institut von Bence Bauer
In Ungarn fanden am 9. Juni 2024 nicht nur die Wahlen zum Europäischen Parlament, sondern auch zu den kommunalen Selbstverwaltungen und den Selbstvertretungsorganen der nationalen Minderheiten statt. Die Wahlbeteiligung betrug landesweit 59,26%, was eine Rekordwahlbeteiligung bedeutet. Fidesz siegt souverän bei Kommunal- und Europawahlen, neue Oppositionspartei Tisza verdrängt die alten Oppositionsparteien
Ergebnisse der Europawahl
Von den insgesamt erschienenen 4.624.731 Wählern[1] wählten 4.562.446 im Inland, 18.661 an den ungarischen Auslandsvertretungen sowie 43.624 per Brief. Die Briefwahl ist den Ungarn ohne ständigen Wohnsitz im Inland vorbehalten. Die Wahlbeteiligung von 59,26% bedeutet eine weitere Zunahme um 16 Prozentpunkte gegenüber der bereits bei der letzten Europawahl stark erhöhten Wahlbeteiligung. Damit kommt die Wahlbeteiligung sehr nahe an die auch aus Deutschland gewohnten Werte und es gingen in Ungarn erstmals mehr Leute wählen als etwa im Nachbarland Österreich. Das Interesse der Ungarn an Europa ist stark, was auch dieses Ergebnis eindrucksvoll unterstreicht. Die derzeit wichtigen Debatten um Europa betreffen auch die ungarischen Bürger, dementsprechend hoch gestaltet sich das Bedürfnis nach Mitsprache.
Bei den Europawahlen errang Fidesz-KDNP mit 2.015.792 Stimmen ein Rekordergebnis in absoluten Zahlen. Damit konnte das bisherige Rekordergebnis von 2019 von 1.824.220 Stimmen noch weit übertroffen werden. Aufgrund der gestiegenen Wahlbeteiligung verringerte sich das relative Ergebnis von 44,62% allerdings um knapp acht Prozentpunkte gegenüber dem Ergebnis von 2019. Damit erzielt das Wahlbündnis von Fidesz-KDNP elf Mandate, zehn davon gehen an die fraktionslose Fidesz, ein Parlamentarier wird für die KDNP in der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) sitzen. Medienberichten zufolge plant Fidesz einen Beitritt zur Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer.
Die Partei von Péter Magyar (TISZA) konnte aus dem Stand mit 29,69% und 1.341.406 Stimmen einen großen Achtungserfolg für sich verbuchen und kann mit sieben Mandataren in das Europäische Parlament einziehen. Der Politikneuling ließ erkennen, dass er eine EVP-Mitgliedschaft anstrebe. Mit diesen Resultaten deklassiert die Bewegung von Magyar die bisherigen Oppositionsparteien, die hohe Wählerverluste zugunsten der TISZA hinnehmen mussten. Es ist ungewiss, ob die linken Parteien in dieser Form noch bestehen bleiben.
Der Führungsanspruch der Demokratischen Koalition (DK) ist schwer angeschlagen, die Partei vernichtend geschlagen. Der Formation des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány gelang es nur im Dreierbündnis mit der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) und den Grünen (PM) überhaupt auf 8,10% zu kommen. Die 366.082 Stimmen reichen nur für insgesamt zwei Plätze. Vor fünf Jahren hatten DK und MSZP noch vier, respektive einen Sitz. Damit ist die alte linke Opposition nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Die rechtsradikale Partei „Unsere Heimat“ (Mi Hazánk) gewann mit 6,76% bei 305.218 Stimmen einen einzigen Sitz. Sie kündigte an, mit der AfD zusammenarbeiten zu wollen. Die übrigen Parteien sind weit abgeschlagen und können aufgrund der 5%-Hürde nicht nach Brüssel und Straßburg einziehen. Insbesondere das Abschneiden des vor fünf Jahren gefeierten liberalen Shootingstars Momentum, der sich selbst als Europapartei verstand, weit unterhalb der 5%-Hürde, stellt die Partei vor existenzielle Herausforderungen. Damit scheint sich zu bewahrheiten, was politische Kommentatoren schon weit vor dem Wahltermin andeuteten: Magyar versetzte der bisherigen Opposition einen K.O.-Schlag und bringt die bisherige politische Landschaft völlig durcheinander. An ihm kommen die Oppositionsparteien nun nicht mehr vorbei. Jetzt muss er beweisen, dass er personell-programmatisch-organisatorisch seine Partei nachhaltig stärken kann. Wieder einmal haben die ungarischen Wähler die bestehende Anti-Orbán-Opposition durch eine neue Anti-Orbán-Opposition ersetzt. Die alten linken Parteien spielen keine Rolle mehr und sind nunmehr völlig marginalisiert.
Ergebnisse der Kommunalwahlen
Bei den Oberbürgermeisterwahlen in Budapest erzielte der Amtsinhaber Gergely Szilveszter Karácsony 47,53% der Stimmen, während Herausforderer Dávid Vitézy mit einem Abstand um Haaresbreite auf 47,49% der Stimmen kam[2]. Der Stimmenunterschied betrug 324 Wähler, eine Neuauszählung soll das endgültige Ergebnis in den nächsten Tagen klären. Das Vabanquespiel, die Fidesz-Kandidatin im allerletzten Moment zurückzuziehen, ging für die bürgerlichen Regierungsparteien dementsprechend überraschend gut aus. Sie erzielten die meisten Stimmen im Budapester Gesamtstadtrat und kamen auf 28,69%, gefolgt von der TISZA-Partei mit 27,34% und dem linksgrünen Bündnis von Karácsony aus DK, MSZP und PM mit 16,62%. Vitézys Bündnis mit der rechtsgrünen LMP kam auf 10,15%, die Satirepartei „Ungarische Partei des zweischwänzigen Hundes“ (MKKP) auf 7,89%. Die liberale Partei Momentum verfehlte mit 4,98% denkbar knapp den Einzug in ihrer absoluten Hochburg Budapest. Sie lag nur 144 Stimmen unter der 5%-Hürde. Mit diesem Ergebnis verfügt keiner der eventuell Gewählten über eine Mehrheit und müsste sich wechselnde Mehrheiten suchen; mit welcher politischen Formation dies geschehen soll, bleibt völlig offen.[3]
In den 25 großen Städten (Komitatsstädte) gewannen die Regierungsparteien 15 Bürgermeisterposten und die entsprechende Stadtratsmehrheit. In zehn Komitatsstädten wird es einen Bürgermeister der Opposition geben, drei von ihnen verfügen vermutlich aber über keine Stadtratsmehrheit. Damit haben derzeit gesichert nur sieben Bürgermeister der Opposition auch eine entsprechende Gestaltungsmehrheit inne – in den Städten Győr, Pécs und Szolnok müssen sie ohne Mehrheit regieren. Vor fünf Jahren betrug das Verhältnis bei diesen Städten 11:11:3. Damals gab es insgesamt 14 Fidesz-Bürgermeister und 11 seitens der Opposition. In drei Städten verfügte der jeweilige Fidesz-Bürgermeister über keine Stadtratsmehrheit, d. h. nur in elf konnte sich der Amtsinhaber von Fidesz auch auf eine bürgerliche Stadtratsmehrheit stützen. Fidesz verlor 2024 insgesamt drei große Städte (Győr, Nagykanizsa und Szolnok) und gewann vier (Baja, Eger, Miskolc und Salgótarján) hinzu. Bei der Wählerschaft der großen Städte konnten die Regierungsparteien die bisherige Pattsituation geringfügig zu ihren Gunsten verbessern. Dies deutet auf die starke Dominanz der Bürgerlichen auf dem Land hin, aber auch auf die Erschöpfungserscheinungen der Opposition. In den großen Städten war die TISZA-Partei überdies kommunalpolitisch inaktiv und konnte so keine Wähler mobilisieren, was sich auch auf die schlechteren Ergebnisse der Oppositionsparteien niederschlägt.
Auf dem Land gewann Fidesz-KDNP in 18 Komitatsversammlungen die absolute Mehrheit, nur im Komitat Pest verfehlten sie diese um zwei Mandate. In 16 Komitaten erzielte das Wahlbündnis auch absolute Stimmenmehrheiten, nur in drei Komitaten blieb es unter der 50%-Marke. Vor fünf Jahren hingegen lag das Bündnis überall über 50%. Auch auf dem Land herrschte große Unzufriedenheit mit der Opposition. Die bisherigen Oppositionsparteien kamen nur in fünf Komitaten auf den zweiten Platz, in 13 Komitaten rangierte stattdessen die rechtsradikale Formation „Unsere Heimat“ (Mi Hazánk) auf Platz 2. Während in Budapest die neue TISZA-Partei die Opposition in die Schranken wies, war dies auf dem Land also die rechtsradikale Partei „Unsere Heimat“. Vieles deutet darauf hin, dass die von den bisherigen Parteien enttäuschten TISZA-Sympathisanten ihr Kreuz bei den Rechtsradikalen machten, da TISZA in den Komitaten und Komitatsstädten keine Wahlvorschläge einreichte und ihnen in ihrer Ablehnung von sowohl Fidesz als auch den Linken nur noch die Rechtsradikalen als einzig verbleibende Variante blieben. Für die mögliche Ausdehnung von TISZA auf dem Land sind diese Resultate eher zwiespältig. Die Partei verfügt zwar auch über eine starke Anhängerschaft auf dem Land, wie die EP-Ergebnisse beweisen, doch ist die Partei personell und organisatorisch noch sehr dünn ausgebaut.
Nicht vergessen werden sollten die Wahlen zu den Vertretungsorganen der 13 autochthonen nationalen Minderheiten. Zu den größten Volksgruppen zählen die Roma (84.968 landesweit abgegebene Stimmen), die Deutschen (27.364), die Kroatien, die Slowaken und die Rumänen. Sie hatten drei Stimmzettel auszufüllen, jeweils einen für die Selbstverwaltungsorgane auf Lokal-, Komitats- und Landesebene.[4] Die Wahlbeteiligung bei den Volksgruppen fiel deutlich höher aus als bei der restlichen Bevölkerung.
Erste Reaktionen
Ministerpräsident Viktor Orbán erklärte noch in der Wahlnacht vor seinen Anhängern, dass die Fidesz zwei von zwei Wahlen gewonnen hätte. „Heute bezwangen wir die alte Opposition, die neue Opposition und egal wie die Opposition das nächste Mal heißen mag, auch diese werden wir schlagen.“ Er fügte hinzu, dass die Demokratie in Ungarn gut funktioniere und dass die Wähler sich für den Frieden entschieden hätten.[5] Mit diesem Wählermandat im Rücken werde die Regierung die Bemühungen für einen Frieden verdoppeln, so der Ministerpräsident. Es gelte nach den Aussagen des Ministerpräsidenten: „Migration Stopp. Gender Stopp. Krieg Stopp. Soros Stopp. Brüssel Stopp.“
Péter Magyar von der TISZA-Partei sprach von einem „politischen Erdbeben“. Seiner Auffassung nach könne es bei den Wahlen zur Ungarischen Nationalversammlung 2026 nur einen ernstzunehmenden Herausforderer für die Regierungsparteien geben und dieser sei seine Partei. Die Demokratische Koalition gab sich trotz erheblicher Rückschläge optimistisch. Ferenc Gyurcsány erklärte: „Wir haben viel mehr Bürgermeister.“ Die im Bündnis angetretene MSZP gab sich trotzig. „Es gab eine Linke, es gibt eine Linke und es wird eine Linke geben“, so die Ko-Vorsitzende Ágnes Kunhalmi. Noch in der Wahlnacht trat Bence Tordai, der Fraktionsvorsitzende der linksgrünen Kleinstpartei Dialog (PM), die ihrerseits im Verbund mit DK und MSZP angetreten war und die Gergely Szilveszter Karácsony für den Posten des Budapester Oberbürgermeisters nominiert hatte, aus der Partei aus. Der Parteivorsitzende von Mi Hazánk, László Toroczkai, erklärte, vier Parteien stünden firm, die anderen seien alle „ausgeblutet“.
Die bisherigen Kommunal- und Europawahlen
In Ungarn beträgt die Legislaturperiode für die Kommunalwahlen seit der letzten kommunalen Legislaturperiode fünf statt der vorher vier Jahre. Bis einschließlich 2014 fanden die Kommunalwahlen immer im Herbst des Jahres der Wahlen zur Ungarischen Nationalversammlung statt, die immer im Frühjahr abgehalten wurden. Mit der Verlängerung der Amtszeit der kommunalen Mandatsträger werden sie seit 2019 im Jahr der Wahlen zum Europäischen Parlament durchgeführt. Aufgrund einer Gesetzesänderung wurde der Wahltermin nunmehr direkt auf den Termin der EP-Wahlen gelegt. Seit den ersten Kommunalwahlen im Herbst 1990 lässt sich beobachten, dass die Wahlen zu den kommunalen Vertretungsorganen zwar von wichtigen persönlichen und lokalpolitischen Entwicklungen bestimmt werden, sie aber auch als wichtiger nationaler Stimmungstest gelten. Anders als in Deutschland hat Ungarn keine Bundesländer. Die deutschen Landtagswahlen sind eine wichtige ständige Kommunikation mit der Wählerschaft innerhalb der vierjährigen Legislaturperiode des Bundestages. In Ungarn finden zwischen den Wahlterminen der Parlamentswahl solche wichtigen Rückkoppelungen durch die Wähler nur einmal in der Legislaturperiode statt, dafür aber zugleich durch alle Stimmberechtigten. Die letzten Wahlen zur Ungarischen Nationalversammlung wurden am 3. April 2022 durchgeführt, diese gewann das Regierungsbündnis von Fidesz-KDNP bei einer Wahlbeteiligung von 69,59% mit 54,13% der Listenstimmen und einem Sieg in 87 von 106 Direktwahlkreisen. Somit kam es in Folge zu einer vierten Zweidrittelmehrheit von Fidesz-KDNP.
Für die Dominanz von Fidesz-KDNP im Lande waren die Kommunalwahlen im Herbst 2006 ein wichtiger Meilenstein. Sie erschütterten die politische Landschaft des Landes und sorgten für eine nachhaltige Stärkung der Konservativen.
Entwicklungen im Vorfeld der Wahl
Der Wahlkampf 2024 wurde außergewöhnlich intensiv geführt. Das Land wurde Anfang des Jahres durch eine Affäre um die Begnadigung eines wegen versuchter Nötigung von minderjährigen sexuellen Missbrauchsopfern verurteilten Straftäters, der selbst kein Pädophiler war, erschüttert. In Folge dieses Begnadigungsfalles traten die Staatspräsidentin Katalin Novák und die EP-Spitzenkandidatin und vormalige Justizministerin Judit Varga zurück. Die Begnadigungsaffäre löste ein politisches Erdbeben aus: Péter Magyar, der geschiedene Mann der zurückgetretenen Ministerin und bis dahin in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung getretenes und einfaches Fidesz-Parteimitglied, nutzte die mediale Aufmerksamkeit für seine eigene Profilierung. Er trat mit schweren Vorwürfen gegen die Regierungsparteien an die Öffentlichkeit. Diese konzentrierten sich vor allem auf die seiner Meinung nach rigide staatliche Kommunikationspolitik und Korruption. Er machte in diesem Kontext sogar ein heimlich aufgenommenes Gespräch mit seiner ehemaligen Frau öffentlich, konkrete Beweise blieb Magyar jedoch schuldig. In der Presse machten schnell Andeutungen über tätliche Angriffe gegen seine ehemalige Frau als Grund der Trennung die Runde. Politische Beobachter argumentierten, dass Péter Magyar nach der Scheidung seinen lukrativen staatlichen Posten und einige Aufsichtsratsmandate in Gefahr sah und deswegen die Flucht nach vorne antrat. Seit seinem ersten öffentlichen Auftreten Anfang Februar absolvierte er unzählige TV-Auftritte und Interviews und organisierte drei Massendemonstrationen in Budapest und eine im ostungarischen Debrecen. Er trat mit seinen Anhängern einer Kleinstpartei, der TISZA-Partei, bei, deren Vizepräsident er wurde und zu deren Spitzenkandidaten für die Europawahl er sich wählen ließ. Einen möglichen Wechsel in das Europäische Parlament ließ er offen. In den letzten Umfragen vor der Wahl erhielt seine Partei bis zu 27% Zustimmung, während die anderen Oppositionsparteien weit abgeschlagen dahinter rangierten. Bereits nach kurzer Zeit war aber schnell deutlich geworden, dass Magyar vor allem die Anhängerschaft der Opposition anspricht, insbesondere die Anhänger von Momentum, der Satirepartei „Zweischwänziger Hund“ und auch der Demokratischen Koalition, dem bisher stärksten Gegner der Regierung. Seine Absicht, Fidesz zu spalten und einen Teil Wähler für sich zu gewinnen, ist bisher erfolglos geblieben. Es scheint, als habe der „Abtrünnige“ eher die Reihen der Regierungsparteien geschlossen und für eine Mobilisierung des Fidesz-Wahlkampfes geführt.
Sein energisches Auftreten hingegen stellte die Anhängerschaft der Opposition vor ein Dilemma. Die von den bisherigen Oppositionsparteien enttäuschten zahlreichen linksliberalen und grünen Wähler unterstützen jede Aktivität oder Person, die Fidesz gefährlich werden könnte, doch ist Magyar für dieses Milieu nicht unbedingt eine authentische, seriöse und vertrauensvolle Erscheinung. Für viele Linke bleibt er ein Vertreter von Fidesz, der nur opportunistisch die Gunst der Stunde für sich zu nutzen scheint. Magyar gab sich in seinen programmatischen Aussagen sehr vage und ließ keinen fundamentalen Widerspruch zu den maßgeblichen Eckpfeilern der Politik der Regierungsparteien erkennen. Seine politischen Forderungen wie die Einführung des Euros, Beitritt zur europäischen Staatsanwaltschaft, Erhöhung der Mindestrente oder Wiedereinführung einer umstrittenen und zuvor abgeschafften Pauschalsteuer für Kleinunternehmer waren im Wahlkampf nicht wirklich von Gewicht. Interessanterweise schaffte es die Partei trotz enormen Zulaufs nicht, in den Komitaten Wahllisten aufzustellen. Sie trat aber bei den EP-Wahlen und beim Budapester Gesamtstadtrat an. Vereinzelt konnte sie auch Bürgermeisterkandidaten nominieren. Die Kandidaten der Partei waren allerdings alle weitgehend unbekannt und lassen den Schluss zu, dass die Partei eher eine „One-Man-Show“ repräsentiert. Außerhalb Budapests hat die Partei keine Basis, so konnten mögliche Unterstützer im ländlichen Raum, abgesehen von der EP-Liste, nicht der Partei ihre Stimme abgegeben. Die meisten Anhänger der TISZA-Partei kommen von anderen Oppositionsparteien und dies führte bereits im Vorfeld der Wahl zu vereinzelten Einschätzungen, dass Magyar der Opposition erheblichen Schaden zufügen könnte, da er die Opposition spalten könnte.
Unmittelbar vor dem Wahltag kam Fidesz-KDNP in den EP-Umfragen auf rund 50% der Wählerstimmen. Die Kommunikation der Regierungsparteien konzentrierte sich im Vorfeld der Wahl ganz entscheidend auf internationale und geopolitische Fragen. Unter dem Slogan „No Migration. No Gender. No War.“ bestimmten der Krieg in der Ukraine, die europäische Migrationskrise und das Eintreten für ein traditionelles Familienbild und eine konservative Gesellschaftspolitik die Kampagne von Fidesz-KDNP. Ministerpräsident Viktor Orbán wies immer wieder darauf hin, dass die seiner Meinung nach kriegslüsterne Mehrheit unter den europäischen Regierungen und europäischen Entscheidungsträgern nur dann in die Schranken gewiesen werden könne, wenn das „Friedenslager“ ein eindeutiges starkes Mandat erhalte. Daher sei es notwendig, dass die Wähler die ungarische Regierung mit einem klaren Vertrauensbeweis ausstatteten, Orbán nannte dies eine „Deckung in Gold“. Er setzte sich seit Anbeginn des Krieges für einen sofortigen Waffenstillstand ein und blieb fest bei dieser Position. Die Mehrheit der ungarischen Bevölkerung unterstützt diese Strategie.
Die Migrationspolitik bleibt ein fester Markenkern der ungarischen Regierungsallianz und hat sich seit 2015 wenig verändert. Die Botschaft der Regierung ist dabei konsequent: Illegale Migration wird abgelehnt und die Bewahrung der ungarischen und europäischen Identität in den Vordergrund gestellt. Dabei kann der ungarische Ministerpräsident auch auf die Erfolge seiner Politik verweisen. Die zahlreichen, durch die Migration verursachten Verwerfungen westeuropäischer Gesellschaften in den Bereichen Arbeitsmarkt, Wohnungswesen, Bildung, kommunale Ebene, soziale Sicherungssysteme, Kriminalität und öffentliche Finanzen sind in Ungarn nicht bekannt. Eine Mehrheit im Lande unterstützt weiterhin die Migrationspolitik der ungarischen Regierung. Das Eintreten für den Fortbestand des „European Way of Life“ durch die ungarischen Regierungsparteien sorgt auch international für Aufmerksamkeit, Beobachter weisen darauf hin, dass sie eben keine Europafeinde seien.[8] Die Ungarn stehen auch in großer Mehrheit hinter der erfolgreichen Familienpolitik von Fidesz-KDNP. Die Zahl der Geburten stieg in den letzten Jahren pro Frau von 1,2 auf 1,6, während die Zahl der Abtreibungen auf historische Tiefen fiel. Auch die Anzahl der Scheidungen sank. Die Beschäftigungsquote vor allem von jungen Müttern nahm zu. Die zahlreichen familienpolitischen Maßnahmen belaufen sich auf ca. 5-6% des ungarischen Bruttosozialprodukts und werden von den Menschen gut angenommen. Die Diskussionen über Genderfragen sind den Ungarn fremd. Viktor Orbán kann ähnlich wie hinsichtlich der Themen Krieg und Migration auch in der Familien- und Gesellschaftspolitik auf viele Unterstützer bauen.
Eine Woche vor den Wahlen organisierten den Regierungsparteien nahestehende gesellschaftliche Kräfte der Bürgerschaft die größte politische Kundgebung des Jahres. Am 1. Juni 2024 versammelten sich die etwa 200.000–300.000 Teilnehmer des sog. „Friedensmarsches“ in Budapest, um für die Politik von Viktor Orbán und für einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine einzutreten. Das international erstaunlicherweise wenig beachtete Großereignis zeigte, über welche enorme Mobilisierungspotentiale die Regierungsparteien verfügen.
Fazit
Die Entwicklungen rund um die Kommunal- und Europawahlen haben in Ungarn ein politisches Erdbeben in den Reihen der Opposition verursacht. Die schon vor den Wahlen geäußerten Mutmaßungen, das Phänomen des Péter Magyar sage viel mehr über den Zustand der ungarischen Opposition aus als über den der Regierungsparteien, haben sich klar bestätigt. Die neue TISZA-Partei löst die altersschwache und wenig überzeugende Opposition aus postkommunistischen, linken, liberalen und grünen Parteien ab und will nun 2026 Fidesz-KDNP herausfordern. Die Regierungsparteien sind aber trotz Verlusten immer noch eine bestimmende Größe, die weiterhin das Heft des Handelns behalten. Viktor Orbán konnte die Krise zum Jahresanfang in einen großen Erfolg verwandeln.
[1] Die Zahlen geben einen Auszählungsstand von 99,98% wieder. Bei vollem Auszählungsstand werden sich die Ergebnisse geringfügig ändern, vgl. auch die englischsprachige Website des Landeswahlamts, https://vtr.valasztas.hu/ep2024 [Abruf am 10.06.2024 um 10.55 Uhr]
[2] Die Porträts der Kandidaten sind im Monatsbrief Ungarn, Ausgabe April 2024 zu finden: https://magyarnemetintezet.hu/documents/doc/Monatsbrief%203.4.2024.pdf [Abruf am 09.06.2024].
[3] Ausführliche Ergebnisse von Budapest finden sich auf der englischsprachigen Website des Landeswahlbüros, https://vtr.valasztas.hu/onk2024/valasztopolgaroknak/varmegyek-telepulesek/varmegyek/01?tab=results&filter=capitallist [Abruf am 10.06.2024 um 11.00 Uhr].
[4] Die ausführlichen Ergebnisse zu den Wahlen der Vertretungsorgane der nationalen Minderheiten siehe auch auf der Website des Landeswahlamts, https://vtr.valasztas.hu/nemz2024?filter=national [Abruf am 10.06.2024 um 11.05 Uhr].
[5] Komplette Rede auf Englisch: https://abouthungary.hu/speeches-and-remarks/speech-by-prime-minister-viktor-orban-on-the-night-of-hungarys-local-government-and-european-parliament-elections [Abruf am 10.06.2024].
[8] Für eine ausführliche Analyse vgl. Hillebrand, Ernst: Von wegen Europafeinde, IPG-Journal, 16.05.2024, https://www.ipg-journal.de/rubriken/demokratie-und-gesellschaft/artikel/von-wegen-europafeinde-7504/ [Abruf am 09.06.2024].
Autor, Bence Bauer LL.M ist Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium in Budapest.