4. Mai 2024 Index von Gyula Hegyi
Der Wohlstand Deutschlands, sein Auslandsrenommee, seine demokratische Wiedergeburt, all das sind dem Frieden zu verdanken. Wenn man ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht ist, wird auch der Frieden von Ungarn wie auch der von Mittel-Europa durch das friedliche Zusammenleben Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn, vor allem mit Russland garantiert.
Ich liebe Deutschland. Nicht seiner Exotik wegen, die ich beispielweise in Kuba, Syrien oder Nepal erlebte. Vor allem sind es die Freunde, die Bekannten, die Kollegen aus Presse und Politik, die ehemaligen DDR-Mädel, mittlerweile auch die Friedhöfe, wo die mir nahestehenden Deutschen begraben sind. Sie alle bedeuten mir Deutschland. Und selbstverständlich heißt es die deutsche Kultur, das Wissen und die Vernunft, eine große Nation mitten in Europa. Seinen Ost wie auch den Westteil habe ich zigmal seit meinem 17. Lebensjahr besucht. In Berlin zu sein ist kein Auslandsaufenthalt mehr für mich. Ich begegnete unterschiedlichen Deutschen, wie Linksextremen, Konservativen, dem aus Neonazi gewordenen Antifaschisten. Und öfters denjenigen, mit denen ich unterhalten habe, auch wenn nur am Rande über die Politik. Mit der deutschen Vergangenheit bin ich gut vertraut, besuchte Geschichtsmuseen, wie auch ein KZ-Lager. Ich war davon vollkommen überzeugt, dass das Deutschtum diese schreckliche Vergangenheit längst bewältigt hat.
Auf den folgenden Gedanken wäre ich aber nie verfallen.
Nicht einmal in meiner wildesten Fantasie hätte ich gemeint, dass die Deutschen erneut gegen Russland in den Krieg ziehen würden. Weder in Ost-, noch in West-, noch im vereinten Deutschland konnte ich auf einen einzigen Deutschen mit einem Mindestmaß an solchen Gedanken oder Gedankenspielerei stoßen.
Nach dem Fall der Mauer wurde der Reichstag erneuert. Die damals, im Frühjahr 1945 von sowjetischen Soldaten in die Wand gemeißelten Graffitis und Geschmier hat man aber auf dessen Kuppel hinterlassen. Teils unflätig, teils die Deutschen bedrohend. Es zeugt von großer Geschichtsräson und Ehrfurcht, dass man sie auf ihrem Platz gelassen hat. Allen deutschen Parlamentsabgeordneten von heute macht es möglich, mit einem Blick gen Kuppel nach oben zu begreifen, wie sich Deutschland auf den Weg nach dem Frieden gemacht hat. Laut Rita Süssmuth, der damaligen Präsidentin des Bundestags: „Das macht uns stärker und nicht schwächer“. Auf Ersuchen der russischen Botschaft sind manche der besonders groben Aufschriften ausgekratzt worden, was die Schönheit des Sinnbildes weiter erhöht.
Der Wohlstand Deutschlands, sein Auslandsrenommee, seine demokratische Wiedergeburt, all das sind dem Frieden zu verdanken. Wenn man ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht ist, wird auch der Frieden von Ungarn wie auch der von Mittel-Europa durch das friedliche Zusammenleben Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn, vor allem mit Russland garantiert. Der deutsch-russische Frieden war zum Teil das damalige Fundament zum Aufschwung in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Die gegenseitigen Kriege dieser Mächte haben demgegenüber auch unser Land kaputt gemacht, mit schweren Gebietsverlusten wie auch Menschenverlusten in Millionenhöhe. Nach all den tragischen Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts dürfen wir wohl erwarten, nie wieder ein Aufmarschgelände für das Militär der beiden großen Länder zu werden.
Als einem zwischen den beiden Mächten Eingekeilten ist es recht beunruhigend zu hören, wie ungeniert sich deutsche Politiker und Generäle über einen Krieg gegen Russland, über die Vernichtung russischer Brücken und Städte äußern.
Ähnliche Äußerungen seitens russischer Soldaten und Politiker wären gleichermaßen beunruhigend, vorläufig gibt es aber davon keine Spur. Wenn es aber soweit käme, sind wir ein Mitglied der NATO, die uns im Falle einer russischen Aggression eine kollektive Verteidigung beschert. Das deutsche Militär und die Rüstungsindustrie werden zu entwickeln sein, wenn die Deutschen sie für schwach halten. Anstatt den Pazifismus in eine kriegerische Panikmache umzuwandeln muss eine Verstärkung der NATO-Flanke in Europa durchgeführt werden. Dass die Deutschen auf das friedliche Wesen der Russen zu viel gesetzt haben, mag sich als Fehler erwiesen haben. Eher mit einer wirksameren Verteidigung denn mit einem Säbelrasseln wäre das entgegenzutreten.
Ein massiver Angriff wurde mit der Sprengung der Nord-Stream Gasleitungen vor anderthalb Jahren gegen Deutschland verübt. Gerade von den treuen Verbündeten Deutschlands und nicht von den Russen wurde er gegen die deutsche Energieversorgung gerichtet. Es ist der Deutschen Sache, wie sie sich darüber hinwegsetzen. Uns wie auch anderen Nationen würde aber eine Eskalierung des Ukraine-Krieges mit verheerenden Folgen einhergehen.
Mit Sünden vom Nazi-Deutschland hat das gegenwärtige Deutschland gar nichts zu tun. Der deutschen Vergangenheit wegen ist es für Deutschland eine moralische Pflicht und Verantwortung doch, ein Hüter des Friedens im Europas Osten zu sein und die Kriegsspannungen wenigstens nicht zu verschärfen.
Wie es damals im besetzten Russland auf dem Schild einer deutschen Kompanie stand: „Der Russe muss sterben damit wir leben”. Zwar haben die Archive dieses Foto längst verschluckt, gibt es hoffentlich aber keinen einzigen Deutschen mehr, den dessen bloßes Gedenken nicht verabscheuen würde. Die Russen trauern um ihre im zweiten Weltkrieg gefallenen, mindestens 20 Millionen Opfer. Die Erinnerung an den Krieg ist bis heute eine Ideologie des Zusammenhalts im Russischen Reich mit seinen vielen Nationalitäten. Sie macht die Bewältigung mit den Schwierigkeiten und dem autokratischen System leichter. (Unter den Reichstaggraffitis sind welche mit arabischen Buchstaben, die von moslemischen Sowjetsoldaten in die Wand gemeißelt wurden.)
Sowohl der Bruder als auch die Großmutter mütterlicherseits von Vladimir Putin wurden zum Opfer der Nazi-Besatzung, mehrere Familienangehörige von ihm sind an der Front gefallen. Das wird ihn wegen seiner Entscheidungen wohl nicht entschuldigen. Sein Land und seine Familie wollte Nazi-Deutschland zerstören, an die man sich in seiner Familie erinnert. Das alles bestimmt zwangsläufig seine Taten.
Die russische Propaganda bedarf keiner besonderen Spitzfindigkeit, um den Einsatz von Waffen aus dem Westen gegen Russland und die militärische Bedrohung als die Verkündigung zum Landesverteidigungskrieg zu nutzen.
Während über eigene Toten in den ukrainischen Medien nichts berichtet wird, wird das Gedenken der in dem ukrainischen Krieg gefallenen russischen Soldaten von der russischen Politik in den heimischen Nachrichten, örtlichen und schulischen Gedenkfeiern, bei Einweihungen von Statuen wie auch in der Popmusik verherrlicht.
Dieser Heroenkult überlagert sich immer natürlicher auf die bis heute währenden massiven Traditionen des antifaschistischen Krieges. Das ist aber ganz und gar kein ausschließlich russisches Anliegen mehr. In der russischen Öffentlichkeit wird dadurch unproblematisch die Begründetheit sogar die Notwendigkeit einer Eskalierung des Krieges vorbereitet.
Aktuell besteht noch die Chance, eine totale Zerstörung der Ukraine, wie auch einen noch gefährlicheren, sogar nuklearen Krieg in Europa und der Welt abzuwenden.
Wie eine neutrale Ukraine in den vergangenen 33 Jahren keine Bedrohung für den Westen darstellte, sollte man sich davor nicht einmal gerade jetzt fürchten. Der ukrainischen Führung soll im Interesse eines Friedensabkommens geholfen, genötigt werden, das die Erhaltung einer neutralen Ukraine innerhalb der ethnischen Verhältnissen im Großen und Ganzen entsprechenden Grenzen garantieren würde. Wird das Russlands Zustimmung einholen? Bitte darüber mit ihm verhandeln, auf Wegen der Traditions- und Geheimdiplomatie! Um dies anzustoßen wird Berlin eine Vorreiterrolle spielen sollen, seiner Vergangenheit und seiner geografischen Lage wegen. Wirtschaftlich und politisch ist das heutige Deutschland ein schwächerer Staat, im Verhältnis zu seinen Gegebenheiten. Ich bin mir sicher, wenn es seiner Aufgabe, als Antreiber der Friedensmission gerecht wäre, würde sein Schwung und Respekt wiedergeboren.
Autor, Gyula Hegyi ist Politiker der MSZP, Mitglied des Europäischen Parlaments 2004-2009
Bildquelle: Sowjetische Graffitis im Reichstag