Politik als Lebensstil des risikolosen Rebellen
16. April 2024 Achgut.com von Krisztina Koenen
Man sollte den Hype um den Dandy-Revoluzzer Péter Magyar (Foto oben) als von den Massenmedien angeheizte Hysterie nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sein Höhenflug ist ein Zeichen für die Krise aller Parteien.
Am Samstag voriger Woche, am 6. April, waren etwa 100.000 Teilnehmer zu einer Kundgebung gegen die konservative Fidesz Regierung vor das Parlament in Budapest geströmt, mit dem einzigen Ziel, dort den neuen Politstar Péter Magyar zu erleben.
Péter Magyar ist der geschiedene Ehemann der wegen einer Begnadigung im Februar zurückgetretenen Fidesz-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Judit Varga, er war bis vor wenigen Wochen politisch noch nie in Erscheinung getreten. Magyar hat ein Küchengespräch mit seiner damals noch Justizministerin Ehefrau insgeheim aufgezeichnet, in dem, wie er behauptete, ungeheure Enthüllungen über die Korruption von Fidesz und der Regierung enthalten seien sollen. Damit ging er zum ersten Mal an die Öffentlichkeit und wurde innerhalb weniger Tage zum Polit- und Medienstar. Wir berichteten darüber hier und hier.
Die von ihm angekündigte ungeheuerliche Enthüllung erwies sich alsbald als eine längst bekannte Beschuldigung, neue Beweise konnte er nicht vorlegen, und die große Enthüllung verpuffte im Nichts. Doch das tat seiner Popularität keinen Abbruch. Um die Stimmung hochzuhalten, versprach er, eine noch viel größere Bombe, ja, sogar eine Atombombe zu zünden, und dann würde der Regierung nichts als der Rücktritt übrigbleiben. Diese wollte er auf eben dieser Kundgebung hochgehen lassen.
So strömten also die Interessenten zu Tausenden in Erwartung des Nie-Dagewesenen zur Versammlung vor dem Parlament. Konkrete politische Forderungen gab es nicht, außer natürlich den Willen, durch neue Beweise die Regierung zu stürzen. Also die Atombombe. Doch was die sein soll, erledigte Magyar mit einer unerwarteten Wendung: „Ihr seid die Atombombe!“ erklärte er den staunenden Anhängern, und das war es dann.
Die einzige – längst erwartete – Neuigkeit war die Ankündigung Magyars, mit einer neuen Partei des „dritten Weges“ bei den Europawahlen anzutreten und dann endlich die seit 14 Jahren währende Herrschaft von Viktor Orbán und der Fidesz-Partei zu beenden.
Er malte das Bild eines verarmten, terrorisierten Volkes
Wer gehofft hatte, während der Kundgebung über sein politisches Programm näheres zu erfahren, wurde enttäuscht. Kein Wort zu den drängenden internationalen und einheimischen Problemen, die der regierenden Fidesz Partei durchaus ernste Sorgen machen. Stattdessen wiederholte er das ewige linke Mantra, die Ungarn seien Sklaven im eigenen Land, Fidesz und die Regierung seien korrupt und raubten das Land aus.
Er malte das Bild eines verarmten, terrorisierten Volkes, dem ungeheure Gefahren drohten, sobald jemand die Regierungspolitik kritisierte so wie er, aber das würde jetzt ein Ende haben. „Habt keine Angst!“ ermutigte er die versammelten Anhänger, „wir nehmen unser Land zurück“. Dass sich Zehntausende friedlich und unbedrängt versammeln, marschieren, übelste Behauptungen über die Regierung bejubeln konnten, hat diese Aussagen für Magyars Anhänger offensichtlich nicht in Frage gestellt.
Eine Parteiengründung der besonderen Art
Magyar beherrscht meisterhaft die Kunst der inszenierten Ankündigung, mit der er die Erwartungen über seine nächsten Schritte hochschraubt. Die elektronischen Massenmedien und Plattformen, ohne die es den Hype Magyar gar nicht gegeben hätte, kannten nach der Kundgebung kaum ein anderes Thema als die angekündigte Parteigründung. Wie wird die Partei heißen? Was wird sie anstreben? Wer wird dazugehören?
Dienstag dann wurde das große Geheimnis gelüftet: Magyar hat sich eine bereits seit 2020 bestehende und bei den Behörden registrierte kleine Partei mit dem Namen „Respekt und Freiheit“ gekauft. Auf Ungarisch heißt die Partei „Tisztelet és Szabadság Párt“, mit Kurznamen „Tisza Párt“, Tisza, auf Deutsch die Theiß, ist der zweitgrößte Fluss Ungarns, aber auch der Name zweier Ministerpräsidenten der KuK-Ära.
Der Einkauf in die Partei ermöglicht Magyar, bei den Europawahlen trotz der Kürze der Zeit anzutreten und den schweren und kostspieligen bürokratischen Weg einer eigenen Parteigründung zu ersparen.
Die kleine Tisza-Partei ist ein Kuriosum. Sie wurde in der im Nordosten von Ungarn gelegenen Stadt Eger von zwei älteren Herrschaften (einer davon mit Fidesz-Vergangenheit) gegründet, mit dem Ziel, sich an den Wahlen von 2022 zu beteiligen. Das Ziel war, eine weder rechts- noch linksstehende, „in der Gesellschaft verankerte“ Kraft zu werden. Um das zu erreichen, stellten sie ein Sammelsurium von bunten Forderungen, vor allem Sozialforderungen, an den Staat. Die Wahlkandidatur scheiterte, und niemand mehr hörte etwas von der Partei bis zum 10. April dieses Jahres.
Da wurde bekannt, dass sich Péter Magyar zum stellvertretenden Vorsitzenden der Partei hat wählen lassen und mit seinen Mitarbeitern die Mehrheit in den „geschäftsführenden Gremien“ der Partei übernommen hat. Mit entwaffnender Offenheit sagte Magyar dazu: „Wir haben mit mehreren Parteien Kontakt aufgenommen und wollten eine Partei suchen, deren Vorgeschichte und Programm zur Gemeinschaft von „Steht auf, Ungarn!“ („Talpra Magyarok!“) passt.“ Der Name der Partei habe ihm besonders gut gefallen, weil Respekt und Freiheit im heutigen öffentlichen Leben schmerzhaft vermisst werde. Darüber hinaus habe der Name „Tisza“ eine „positive und freudige Konnotation in der ungarischen Kultur“. Gleichzeitig prophezeite er, dass „die Macht mit administrativen Mitteln unsere Wahlbeteiligung verhindern werde“. Nichts von dem geschah,
die Partei wurde von den Behörden ohne Probleme – sogar bevorzugt, mittels einer kleinen Rechtsbeugung – zugelassen und registriert.
Das alles, die Kundgebungen, die neuen Websites, der Parteikauf, kosten Geld, inzwischen sehr viel Geld. Auch wenn Magyar jahrzehntelang ein Günstling des Fidesz-Netzwerks war, ist es unwahrscheinlich, dass er eigene Mittel verwendet.
Woher also kommt das Geld?
Dieser Frage gehen inzwischen Armeen von investigativen Journalisten und Gegnern Magyars nach, bisher mit mäßigem Erfolg. Gerüchte über Geld von Orbán-kritischen Oligarchen und die Finanzierung aus dem Ausland machen die Runden, ohne handfeste Beweise. Dafür jedoch, dass Magyar ganz fest mit ausländischen Zuwendungen (vermutlich von der EU und den Amerikanern) rechnet, gibt es einen Beweis.
Da in Ungarn die ausländische Parteienfinanzierung verboten ist, gründen alle Parteien, die Geld aus dem Ausland erwarten, eigene „Vereine“. Das tat auch Magyar, gleich am 6. April verkündete er die Gründung des Vereins „Steht auf, Ungarn“ (Talpra Magyarok), und tatsächlich brüstete er sich wenige Tage später damit, die amerikanische Botschaft in Budapest habe bereits Kontakt mit ihm aufgenommen.
Politik als Lifestyle des risikolosen Rebellen
Nach letzten Erhebungen würden zwischen 10 und 13 Prozent der Wähler bei der Europa-Wahl ihre Stimme der neuen Magyar-Partei geben, Stimmen, die er kaum der Regierungspartei, aber umso mehr der etablierten, und seit 14 Jahren erfolglosen links-globalistischen Opposition wegnehmen würde. Obwohl Magyar immer wieder angekündigt hat, für die „vielen enttäuschten Fidesz-Mitglieder und Wähler“ zu sprechen, sind diese an seiner Seite noch nicht in Erscheinung getreten.
Was begeistert Wähler an einem Mann, der noch vor zwei Monaten zu den privilegierten Begünstigten des Fidesz-Netzwerks mit monatlichen Einkünften von mindestens 10.000 Euro gehört hat, der ein skandalöses Eheleben geführt hat, der bisher keine seiner versprochenen Enthüllungen präsentieren konnte, und der über keinerlei politisches Programm oder auch nur einen Standpunkt verfügt?
Vermutlich ist in der extrem polarisierten und hysterisierten Öffentlichkeit Ungarns, vor allem Budapests, gerade diese völlige Inhaltslosigkeit, die Péter Magyar für viele so attraktiv macht: Jeder kann in ihn hineindenken, was gerade seine Beschwerde ist, warum gerade er die Regierung zum Teufel wünscht. Da vertragen sich materielle Beschwerden mit den realen oder eingebildeten Kränkungen der alteingesessenen Budapester Intelligenzia, da kann man die Klagen über den von der Inflation verursachten schmerzhaften Wohlstandsverlust ebenso in Magyars Auftritt hineininterpretieren, wie die viszerale Ablehnung der ländlichen, national denkenden und folglich zurückgebliebenen Wählerschaft von Fidesz durch die globalistischen städtischen Eliten. Wahrscheinlich hat der liberale, ehemals Grüne politische Analyst András Schiffer Recht, wenn er sagt: „Was Magyar macht, ist nicht Politik, es ist Lifestyle, der Lebensstil des risikolosen Rebellen.“
Magyars Auftauchen im ungarischen politischen Leben ist ein Krisenzeichen.
Fidesz hat sich seit den 2020-er Jahren von ihrem früheren Kurs abgewendet, sie folgt in vielem der westlichen globalistischen Elite, auch wenn Orbán in einigen Fragen wie Migration, Krieg, LGBT noch an seinen alten Prinzipien festhält.
Die – in der EU höchste – Inflation hat vielen sehr wehgetan, und selbst unter Fidesz-Anhängern gibt es das berechtigte Gefühl, das etwas im Land nicht in die richtige Richtung geht. Erst einmal schadet Magyar trotzdem vor allem der globalistischen Opposition, die deshalb nie Fuß fassen konnte, weil sie dies immer wieder mit den woken Programmen und dem Geld der EU und der USA versucht hat.
Fidesz und die Regierung scheinen dessen bewusst zu sein. Direkt reagieren sie auf Magyars Hysterien überhaupt nicht, überlassen die – oft sehr ungeschickt durchsichtige – Kritik ihren Massenmedien. Sie lassen Magyar freien Lauf, in der Überzeugung, er wird sich schon selbst demontieren. Möglicherweise wird es so kommen. Das Kalkül mag auch sein, dass so lange wie Magyar auf den Straßen rumtobt, hat es die echte und begründete Kritik an der Regierungspolitik und am Gebaren von Fidesz nur geringe Chancen hochzukommen und gehört zu werden. Aber auch Fidesz sollte sich nicht in Sicherheit wiegen, die Selbsterneuerung wäre überfällig. Magyar sollte auch für sie eine Warnung sein.
Krisztina Koenen war Redakteurin des FAZ-Magazins und der Wirtschaftswoche. Danach wechselte sie in die Unternehmenskommunikation. Sie ist Autorin mehrerer Bücher.