3. Oktober 2024 von IRÉN RAB
Im Januar 2021, also vor genau drei Jahren, startete ich meine Website „Ungarnreal“. Die Zielsetzung stand im Untertitel: „Ungarn aus erster Hand“. Aus erster Hand, weil die deutschen Medien nach meiner Erfahrung selten eine Meinung über Ungarn aus erster Hand wiedergeben, dafür sind sie zu fixiert auf ihre eigenen Vorurteile. Historische Quellen zeigen, dass diese Praxis im Westen immer existierte, seit es das christliche Europa gibt. Die Stimmen derer, die vom Mainstream abweichen, sollten schon damals nicht gehört werden, und man will sie auch heute nicht verstehen.
Ich wollte ein Gegengewicht zu den Angriffen auf ungarische Verhältnisse schaffen und den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern Texte präsentieren, die ungarischen Haltungen zum Ausdruck bringen und auch verteidigen, damit sie sehen können, dass es auch noch eine andere Seite und eine andere Auffassung gibt.
Ich dachte, dass dieser Blog eine Sammlung von Texten sein würde, die all jenen präsentiert werden und von all jenen genutzt werden könnten, die Fakten, Munition im Medienkrieg, Argumente in den Debatten benötigen. Ich dachte dabei vor allem an die in Deutschland lebenden Ungarn und an die Deutschen, die die ungarische Politik verstehen und unterstützen wollen.
Ursprünglich wollte ich nur präsentieren, warum die Ungarn anders denken, aber es stellte sich heraus, dass das Hauptproblem der „ungarischen Frage“ die Identitätskrise in den westlichen Gesellschaften ist. Mit ihrem nationalen Anderssein verteidigen die Ungarn nicht nur ihre eigenen Werte, sondern auch die auf christlichen Wurzeln berhenden europäischen Werte. Die Werte, die den Westen, einschließlich Deutschland, erfolgreich, stark und vorbildlich gemacht haben.
Ich habe mehr als zwanzig Jahre meines Lebens damit verbracht, Deutschen in Ungarn und an der Universität Göttingen Hungarologie, d.h. ungarische Sprache und ungarische Landeskunde, beizubringen. Ich habe gelernt, wo für sie empfänglich und empfindlich, wofür sie unsensibel sind. Ich musste erfahren, dass gute Absichten und Offenheit zwar für die Akzeptanz, aber nicht für das Verstehen reichen. Dazu braucht man Wissen, und ich erfuhr, woran es ihnen mangelte, was sie verstanden und warum sie etwas nicht verstehen konnten. Ich habe auch gelernt, wie man Deutsche anspricht.
Mein Ziel mit Ungarnreal war es, ihnen die Augen für die ungarische Realität zu öffnen, und dasselbe möchte ich mit diesem Buch tun.
Ich wollte zum Beispiel erklären, warum Heimat für uns der Ort ist, an dem „man leben und sterben muss“. Dass der Begriff der Nation für die Ungarn kein chauvinistisches Schimpfwort ist, denn die Nation bedeutet für uns eine Wertegemeinschaft, eine Verbindungskraft zwischen den Menschen, die von hier und von jenseits unserer Grenzen leben. Diese Kraft wurde und wird niemals gegen andere Völker, sondern nur zur existenziellen Selbstverteidigung eingesetzt. Die große Familie der ungarischen Nation ist durch eine gemeinsame Vergangenheit, ein gemeinsames Interesse und eine gemeinsame Sprache geschmiedet wor den und wird seit mehr als einem Jahrtausend in einem vielfältigen Europa weiterhin dadurch zusammengehalten. Für ein Volk, dessen Sprache von niemandem sonst gesprochen und verstanden wird, ist die starke nationale Gemeinschaft eine Voraussetzung des Fortbestands, des Verbleibens.
Es ist schwierig, Ungar zu sein, weil die Welt uns nicht versteht. Es ist schwierig, Ungar zu sein, aber dennoch ist es ist eine „stolze Pracht“.
Um das ungarische Anderssein zu ergründen, habe ich eine Reihe von Schriften auf Ungarnreal veröffentlicht, welche unsere Denkweise, unsere Sprache, unsere Kultur und unsere Geschichte vorstellen. Daraus konnte man ein tausendeinhundert Jahre ungarischer Geschichte darstellen. Ich wählte verschiedene Studien, Veröffentlichungen und Reden zu bedeutenden historischen Ereignissen von Autoren mit unterschiedlichen Sichtweisen aus. Manchmal griff ich auf Originalquellen zurück, wie z. B. auf den Brief von König Béla IV. aus dem Jahr 1245, in dem er den
Papst um Hilfe gegen die einfallenden Tataren bat, oderauf das Pamphlet von Feldherrn Miklós Zrínyi aus dem Jahr 1661, in dem er zur europäischen Einheit gegen die Türken aufrief. Dies sind die Klagen eines Landes, das von heidnischen Feinden belagert und von Europa immer wieder im Stich gelassen wird. Klagen eines Landes, welches sich nur auf sich selbst stützen kann. Vor dem Hintergrund der Migration des 21. Jahrhunderts ist dies die Erklärung dafür, warum Ungarn seine Grenzen streng bewacht und die Masseneinwanderung ablehnt.
Die ausgewählten Schriften helfen uns, die Gründe für die starke christliche Identität der Ungarn zu verstehen, die an ihren nationalen Traditionen festhalten.
Schriften über das Trauma vom Friedensdiktat Trianon im 20. Jahrhundert, über die kommunistische Diktatur und den Regimewechsel helfen zu verstehen, warum die sogenannte nationale Rechte in Ungarn großen Rückhalt hat und warum die Mehrheit die linken Alternativen ablehnt. Viktor Orbáns berühmte Rede bei der Beerdigung von Imre Nagy und seinen Märtyrerkameraden im Jahr 1989 und Ferenc Gyurcsánys berüchtigte Rede bei den Parlamentswahlen 2006 machen den Werteunterschied zwischen den beiden politischen Lagern sehr deutlich.
Wie ist unser Selbstbild, wie sind wir im Laufe der Jahrhunderte gesehen worden, wie sehen uns heute jene, die uns nicht kennen, und jene, die uns bereits kennengelernt und sogar gewählt haben? Wo gehören wir in der Welt hin, wie werden wir behandelt und wie behandeln wir andere, wie die Nationalitäten, die seit Jahrhunderten mit uns leben, Deutsche, Roma, Juden? Was feiern wir und warum? Wie sieht die ungarische Erinnerungskultur aus, was sind die Erinnerungen und Werte, die wir tief in uns bewahren?
In drei Jahren wurden 740 Artikel auf der Webseite von Ungarnreal veröffentlicht. (Jetzt sind wir beim 800.) Daraus habe ich 73 zeitlose Werke nach den Kriterien der Hungarologie ausgewählt, welche versuchen, die gestellten Fragen zu beantworten. Der Band ist hinsichtlich des Genres und des Stils heterogen, 31 Autoren schreiben und denken eben nicht gleich. Die Mehrheit der Autoren arbeitet im Bereich der Wissenschaft, ihre Schriften sind glaubwürdig, fundiert und wertvoll.
Ich danke ihnen für die Möglichkeit, ihre Schriften veröffentlichen zu dürfen, und meinem kleinen Team von Freiwilligen für die Übersetzungsarbeit. Ohne ihre Hilfe könnten weder das Online-Magazin Ungarnreal noch dieses Buch veröffentlicht werden.
Budapest, im Dezember 2023
Dr. Irén Rab
Kulturhistorikerin
Gründungschefredakteurin von Ungarnreal – Ungarn aus erster Hand