Zum Tag der ungarischen Dichtung
11. April 2024 Siebente Ecloga
Der Tag der ungarischen Dichtung wird traditionell jedes Jahr am 11. April gefeiert, dem Geburtstag des ungarischen Dichters, Attila Józsefs. Dieser Tag wird offiziell seit 1964 gefeiert.
Vor 80 Jahren wurde eine herausragende Persönlichkeit der ungarischen Literatur des 20. Jahrhundert, Miklós Radnóti (geb. Glatter, 1909-1944) ermordet. Er entstammte einer integrierten jüdischen Familie. Bei seiner Geburt verlor er seine Mutter und seinen Zwillingsbruder. Sein Vater starb 1921, als er zwölf Jahre alt war. Radnóti wuchs bei Verwandten auf. Nach dem Abitur verfolgte eine kaufmännische Ausbildung. 1928 begann er ein Studium für ungarische und französische Literatur an der Universität von Szeged. Er arbeitete als Übersetzer und Privatlehrer. Seine Werke wurden hier erstmals unter dem Namen Miklós Radnóti veröffentlicht.
1942 und 1943 wurde er wegen seiner jüdischen Abstammung mehrfach zum Arbeitsdienst eingezogen. Im Mai 1944 wurde er zunächst an die ukrainische Front beordert und später im Lager Bor in Serbien interniert. Von hier wurde er im August 1944 mit mehreren tausend jüdischen Zwangsarbeitern in Gewaltmärschen quer durch Ungarn zur österreichischen Grenze getrieben und mit 21 seiner Mitgefangenen bei Abda, nahe der österreichischen Grenze, ermordet. Das Massengrab wurde nach dem Krieg 1946 exhumiert. Bei der Exhumierung wurden in seiner Jackentasche ein Notizbuch mit seinen letzten Gedichten gefunden. Dieses Gedicht, die SIEBENTE ECLOGA hat er, im Juli 1944 im Lager Heidenau in makellosen Hexametern geschrieben.
Siehst du, der Abend naht, und der Stacheldraht rings und der wilde
Eichzaun und die Baracke, sie schweben hinein in sein Dämmern.
Langsam löst sich der Blick von unsrer Gefangenschaft Rahmen,
und der Verstand nur allein weiss noch um die Ladung des Drahtes.
Sieh, auch die Phantasie gewinnt hier nur so ihre Freiheit,
unsern gebrochenen Leib löst der Schlaf, der schöne Befreier,
und das Gefangenenlager schwebt nun, da die Nacht naht, nach Hause.
Schnarchend, in Lumpen gehüllt und kahl fliegt von Serbiens blinder Höhe der Häftlinge Schar in die Heimat, die schweigend geduckte. Schweigend geduckte Heimat! Oh, gibt es denn noch ein Zuhause?
Wurde es nicht schon zerbombt? Und ist’s so noch, wie einst wir’s verliessen?
Und ob, wer rechts von mir stöhnt und links hingestreckt liegt, einst wohl heimkehrt?
Sag, gibt’s dort noch einen Ort, wo man den Hexameter verstehn kann?
Ungefähr, ohne Sicht, nur Zeile um Zeile abtastend, schreibe ich hier in der Dämmerung Verse, schreib so, wie ich lebe,
wie ein Regenwurm blind den glatten Papiergrund befühlend.
Taschenlampe und Bücher nahmen die Wächter des Lagers,
und statt der Post, der ersehnten, dringt Nebel in unsre Baracke.
Unter Gerücht- und Gewürmen leben hier Polen, Franzosen,
Römer, verträumte Bergjuden, separatistische Serben,
Stücke nur fiebernden Leibs und dennoch ein Leben hier lebend,
wartend auf frohe Botschaft, aufs Wort einer Frau, auf die Freiheit, auf das in dichte Dämmerung stürzende Ende, auf Wunder.
Bettenlos lieg ich, gefangenes Tier zwischen Würmern; der Flöhe
Ansturm hebt neu wieder an, da die Heere der Fliegen nun ruhen.
Sieh, es ist Abend, Geliebte: ein Tag der Gefangenschaft weniger
und ein Lebenstag auch. Das Lager schläft. Auf die Landschaft
scheint nun der Mond und macht den Stacheldraht wieder erglänzen,
und man sieht durch das Fenster die Schatten bewaffneter Wächter
an die kalkige Wand projiziert unter nächtlichen Stimmen.
Siehst du, Geliebte, das Lager schläft, und es rauschen die Träume, einer, aufgeweckt, schnauft, dreht sich um auf dem engen Fleck und schon schläft
er wieder, und sein Gesicht strahlt. Nur ich allein wache,
schmeckend den halb aufgerauchten Stummel im Munde anstelle
deines Kusses Geschmack, und es naht mir der Schlaf nicht, der milde, denn nicht sterben, nicht leben kann ich nunmehr ohne Dich.
Lager Heidenau, im Juli 1944
Übersetzt von Fühmann, Franz
MAGYARUL: https://youtu.be/SlwL1foUTpk?si=zIYMHq6U-SyJChA6