4. April 2024 Monatsbrief Ungarn vom Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit
Am Freitag, den 15. März, beging Ungarn seinen Nationalfeiertag zum Gedenken an die nationale Revolution von 1848. Tausende Besucher strömten anlässlich der Feierlichkeiten in die Hauptstadt Budapest. Mehr als 300.000 Übernachtungen wurden am langen Wochenende verzeichnet. Auch das politische Ungarn würdigte den Tag wie gewöhnlich mit Festveranstaltungen, Kundgebungen und großen Reden.
Ministerpräsident Orbán: Wir müssen „Brüssel erobern“!
Ministerpräsident Viktor Orbán hielt seine Festrede auf den Stufen des ungarischen Nationalmuseums, wo er eine scharfe Parallele zwischen den Revolutionären von 1848 und der heutigen ungarischen jungen Generation zog. Auch heute müsse man im Namen von „Ungarns Freiheit und Souveränität […] Brüssel erobern“ anstatt sich der „globalen Schafherde auf der Prachtstraße des Soros-Imperiums“ anzuschließen. Weiter kritisierte Orbán den entfesselten Individualismus des Westens, der Solidarität und Gemeinschaftlichkeit verloren habe: „Im Westen wird das Individuum über alles gestellt, Geschlecht und Familie gelten als Konstrukte freier Entscheidungen. Wir Ungarn wissen, allein auf der Welt bist du nicht frei, sondern nur einsam.“ In dieser heutigen westlichen Welt, in der Millionen von Menschen entwurzelt und ohne Identität seien, ohne inneren Antrieb, ohne Ziel, ohne Respekt, würden mal eben einfach so Kriege entfacht und ganze Welten zerstört.
„„Wir Ungarn wollen anders leben, wir haben eine Vergangenheit und wir haben eine Zukunft“, hielt der Ministerpräsident fest. Wir lassen uns in keinen Krieg hineinziehen, lassen uns keine illegalen Migranten aufdrängen und schon gar nicht unsere Kinder umerziehen. Ungarn ist frei und souverän, und das bleibt es auch!“,
so Orbán, „[…] für die Linken sind Steine dazu da, zertrümmert zu werden, wir Konservativen nehmen die Steine, um Kathedralen zu erbauen.“Opposition feiert zersplittert.
Die Oppositionsparteien des linken Spektrums der ehemaligen „vereinten Opposition“ feierten den 15. März hingegen jeweils eigenständig, ohne große Massen zu mobilisieren.
- Spitzenpolitikerin der Demokratischen Koalition und Europaabgeordnete Klára Dobrev beklagte, die Fidesz-Machthaber hätten der ungarischen Linken die gemeinsame Heimat genommen, weiter sagte sie: „Wir sind nur dann eine Nation und eine Heimat, wenn für alle die gleichen Regeln gelten und niemand über den Gesetzen steht“.
- Momentum-Vorsitzende Anna Donath kritisierte, dass Ungarn außenpolitisch isoliert sei und die Wirtschaft an der Korruption ersticke.
- Ágnes Kunhalmi, Vizevorsitzende der Sozialisten (MSZP), betonte die Aufgabe, den Glauben an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen und die sozialen Rechte der Arbeitnehmer geltend zu machen.
- Márton Gyöngyösi, Vorsitzender der Rechts-Partei Jobbik, lobte die Möglichkeit zur friedlichen Veränderung mittels freier Wahlen, bemängelte aber auch, dass die Ungarn in jedem Jahrhundert gegen „arrogante Machthaber“ zu kämpfen hätten. Bei den Kommunal- und Europawahlen am 9. Juni könnten die Wähler aber „Lügen, Propaganda und Diebstahl“ klar zurückweisen.
- Die Grünen von der LMP zeigten sich skeptisch gegenüber all jenen Parteien, die den Nationalfeiertag missbrauchen würden – so Co-Vorsitzende Erzsébet Schmuck –, um „politische Programme zu deklarieren oder zum Machtwechsel aufzurufen“. Der Nationalfeiertag sei dazu da, um den wahren Helden der Revolution von 1848 zu gedenken.
- Budapest, die Zuflucht der Republik Oberbürgermeister von Budapest, Gergely Karácsony (Párbeszéd/Dialog), erklärte seine Hauptstadt zur „Republik, die von Budapester Bürgern regiert wird“. Er sprach im Rahmen einer Demonstration mit verschiedenen Schülerorganisationen. Das oppositionell regierte Budapest gewähre „dem Konzept der Republik Zuflucht“, wohingegen die gewählte Nationalregierung das Land führe „wie eine Aktiengesellschaft und nicht wie eine Republik“ und arme Menschen, Obdachlose, Lehrer und Schüler in ihrer hoffnungslosen Situation im Stich lasse. Auch wenn viele Menschen nicht nur mit der Arbeit der Regierung, sondern auch mit der Opposition unzufrieden seien, rief er sie auf, bei den Kommunalwahlen abzustimmen.
- Die rechtsextreme Oppositionspartei Mi Hazánk stellte das Ungarntum und die Unabhängigkeit der 1848er Revolutionäre in den Vordergrund, die nicht auf das Ausland gewartet hätten. „Ich bin stolz, Ungar zu sein“, erklärte der Vorsitzende László Toroczkai. Der linke Block hingegen wolle das Ungarntum, den Ungarn abschaffen. Auch Fidesz führe eine linke Wirtschaftspolitik weiter. Allein die Mi Hazánk glaube an die ungarische Volkswirtschaft und an die ungarischen Landwirte, Arbeiter und Unternehmer, und stelle sich „gegen die Macht der Multis, gegen illegale Einwanderung und Gastarbeiter“.
- Die Satirepartei des zweischwänzigen Hundes (MKKP) feierte den Nationalfeiertag mit einer „Besetzung“ der Budapester Freiheitsbrücke. Die Co-Vorsitzenden wandten sich in gewohnt ironischer Art an all jene, die ihr Glück sowohl bei Fidesz als auch bei den Linken oder den Rechtsextremen (oder sonst wem) enttäuscht sahen. Auch an die Anhänger der Reformierten Kirche richteten sie sich mit spöttischen Worten zum neuen Kinderschutzgesetz. Ein vollkommen ernstes Anliegen sei ihnen jedoch die Souveränität des Landes und das Stoppen der Auswanderung der Jugend; der vollkommen unernste Lösungsvorschlag: Man müsse die Löhne im Westen mit sofortiger Wirkung um 20 Prozent senken (und im benachbarten Rumänien zur Sicherheit auch um 10 Prozent). Die MKKP, so weiter, sei aber schon lange keine reine Witzpartei mehr. Nacht 14 Jahren „Orbán-System“ gebe es immerhin „keine Absurditäten mehr, die von den Machthabern nicht noch übertroffen würden.“
Polit-Insider auf Abrechnungskurs: Péter Magyar gründet neue Bewegung
Ein gänzlich neuer Akteur auf der politischen Bühne Ungarns trat mit Péter Magyar auf. Der Ex-Mann der im Zusammenhang mit dem Begnadigungsskandal zurückgetretenen ehemaligen Justizministerin und EU-Spitzenkandidatin von Fidesz, Judit Varga, hatte im Zuge des Skandals nach dem Rücktritt seiner Frau ein Video-Interview mit dem regierungskritischen, linksliberalen Sender Partizán gegeben, in welchem er unter anderem schwere Korruptionsvorwürfe gegen einige Politiker, allen voran den Kabinettschef des Ministerpräsidenten, Antal Rogán, und Kritik an den „oligarchischen“ Strukturen des Fidesz erhoben hatte. Zuvor hatte er bereits auf seiner Facebook-Seite seinen Rücktritt von all seinen Posten in staatlichen Unternehmen bekanntgegeben.
Nun kündigte er in einem öffentlichen Auftritt auf der Prachtstraße der Andrássy út am 15. März vor großem Publikum von einigen zehntausend neugierigen Leuten als neuer „Shooting Star“ der ungarischen Politik die Gründung einer alternativen Bewegung namens „Steht auf, Ungarn“ (TMK) an. Diese plane er, zu gegebenem Zeitpunkt in eine Partei umzuwandeln. In seiner Rede rechnete er erneut mit seiner alten Partei ab und kritisierte die seiner Meinung nach fehlerhafte Allokation von EU-Geldern, die nicht das Interesse des Landes vor Augen hätte.
Magyar versteht sich als konservativer Mann der Mitte, der jenseits der für Ungarn typischen politischen Grabenkämpfe stehen wolle. Er sprach sich für eine Reform des Bildungs- und Gesundheitswesens aus. Entgegen den linken Parteien kritisierte er das Zurückhalten der EUGelder seitens Brüssel. Vielmehr als eine Blockade von Mitteln, gelte es, die Fördermittel vernünftig und besser zu kontrollieren. Der frühere Oppositionsspitzenkandidat Péter Márki-Zay stellte sich unmittelbar nach der Massenkundgebung hinter Magyars neue Bewegung. Magyar sei zwar nicht der „Messias“ für den ihn viele Menschen im Moment halten würden, besitze jedoch aufgrund seiner Inneneinblicke durchaus Glaubwürdigkeit insbesondere beim Fidesz-Lager und könnte viele enttäuschte Wähler aus ihrer Apathie wachrütteln. Wie sich Márki-Zays selbstbezeichnete Volkspartei „Ungarn für alle“ (MMN) zur TMK verhalten wird, ist derzeit noch unklar.
Am Dienstag, den 26. März, veröffentlichte Magyar auf seiner Facebook-Seite im Zuge seiner politischen Abrechnung eine private Tonaufnahme seiner Ex-Frau, die weitere Beweise für seine Korruptionsvorwürfe liefern soll. Die Notwendigkeit zur heimlichen Aufnahme seiner Ehefrau und deren jetzige Veröffentlichung begründete er mit dem angeblichen Selbstschutz seiner Familie. Ferner würden dadurch keine Persönlichkeitsrechte verletzt und die Aufnahme schade seiner Ex-Frau nicht. Die reine Verletzung ihrer Privatsphäre stelle kein Verbrechen dar.
Judit Varga, die sich infolge ihres Rücktritts aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatte, reagierte in einem umfassenden Facebook-Post auf die Geschehnisse. Ihr Ex-Mann habe sie im Vorfeld der Tonaufnahme „tagelang terrorisiert“, sodass sie ihm im aufgezeichneten Gespräch das gesagt habe, was er habe hören wollen, damit er sie so schnell wie möglich in Ruhe lasse. Weiter wolle sie sich dazu nicht äußern,
„da ich mich bereits aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen habe und jede öffentliche Diskussion – sei es auch eine Bewertung des erstaunlichen, irreführenden Amoklaufs meines inzwischen zum linken Politiker avancierten Ex-Mannes – mich zurück in die politische Arena bringen würde, was ich vermeiden möchte.“ Ihre frühere Ehe habe ihr bereits genug Schmerz, Kummer und Demütigung bereitet. Die Aussagen von Péter Magyar halte sie für rücksichtslos und manipulativ.
In einem kurz darauf ausgestrahlten TV-Interview beschuldigte Varga ihren ExMann, sie während der Ehe misshandelt zu haben. Diese Aussage wurde von Magyar nicht bestritten.
Ministerpräsident Orbán äußerte sich kurz und lapidar, indem er verlautbaren ließ, dass er sich mit Regierungsangelegenheiten, nicht mit TV-Dramen befasse. Am Dienstagabend veranstaltete Magyar einen spontanen Fackelzug durch die Budapester Innenstadt mit anschließender Abschlusskundgebung, an dem ein Bruchteil der Menschen vom 15. März, in etwa 10.000 Menschen, teilnahm.
Am 6. April, bei seiner nächsten Großkundgebung erwarte er „mehrere Hunderttausend“, um die Regierung zu „entmachten“.
Dieser Text basiert auf der monatlichen Zusammenfassung des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit