20. August 2024 Magyar Hírlap von IRÉN RAB
Die Aufgabe der Ungarn ist es heute, den Schatz der Demokratie und den Traum vom Frieden zu bewahren und zu verwirklichen. Denn die Ungarn kennen den Wert der Freiheit, weil sie einen hohen Preis dafür bezahlt haben.
Für uns Ungarn war es nie eine Frage, ob wir zu Europa gehören. Es war der Mythos des Turul, des Riesenvogels der endlosen Steppe, welcher uns hierher führte. Die Ungarn folgten ihm, wo er verschwand, richteten sie ihr Lager ein und als der Turul wieder auftauchte, wanderten auch die Ungarn mit ihm weiter. So erreichten sie den geografischen Mittelpunkt Europas, das Karpatenbecken, das Land Attilas des Großen, denn der Sage nach vermachte der große Hunnenkönig sein ehemaliges Land seinen ungarischen Brüdern. Auf diese Weise besetzten die Ungarn das Grenzgebiet zwischen Ost und West. So wurden sie im Westen zu Christen und so blieben sie gleichzeitig freiheitsliebende östliche Nomaden.
Ob die ungarischen Besatzer es wussten oder nicht, sie blieben hier, denn der Vogel flog von hier nicht weiter, denn der mythische Turul ist in Wirklichkeit ein Sakerfalke, und sein westlichster natürlicher Lebensraum ist zufällig das Karpatenbecken. Der aus den östlichen Steppen stammende Sakerfalke ist unter dem Namen des alttürkischen Turul zum mythischen Vogel der ungarischen Volksmärchen geworden, aber er ist auch der wundertätige Greif der Volksmärchen.
Der Steppenvogel spielte nicht nur bei der Eroberung Ungarns eine Rolle, sondern auch bei der Bestimmung und beim Schutz des ungarischen Königshauses. Auch die ungarische Dynastie, das Árpádenhaus, das von der Landnahme bis 1301 herrschte, führte den Steppenvogel in ihrer Genealogie. Emese, die Mutter des 819 geborenen Álmos, hatte während ihrer Schwangerschaft einen göttlichen Traum, in dem ein Vogel in Form eines Turuls über sie hinwegflog, um ihr ungeborenes Kind vor Schaden zu bewahren. Nach Ansicht der Traumdeuter und der christlichen Bewahrer des Mythos bedeutete der Traum nicht nur Schutz, sondern auch, dass aus dem Schoß von Emese (Bedeutung: Mutter, Urmutter) eine Quelle sprudeln würde und dass aus ihren Lenden ruhmreiche Könige hervorgehen würden. Dies ist bereits in der Geschichtsschreibung des Anonymus aus dem späten 12. Jahrhundert nachzulesen, und spätere prominente Chronisten bestätigten diesen Mythos.
Der gekrönte Turul war bis zur Staatsgründung das militärische Symbol der Ungarn, danach wurde er von den christlichen Elementen etwas in den Hintergrund gedrängt. Der Mythos des Turul lebte jedoch weiter und trat anlässlich des tausendjährigen Jubiläums der Landnahme Ungarns wieder in den Vordergrund. Im Jahr 1896 wurden an sieben symbolträchtigen Punkten des Landes sieben Millenniumsdenkmäler errichtet, um
„die tausendjährige Staatlichkeit mit bleibenden Erinnerungen zu würdigen“.
Die vier Tore des Landes – das westliche Tor von Dévény, wo die Donau ins Land eintritt (heute Devin, Slowakei), das südöstliche Tor Brassó in Siebenbürgen (heute Brasov, Rumänien), das Tor des Südens von Zimony über der Save (heute Zemun, Serbien) , und das östliche Tor in Transkarpatien, Munkács (heute Mukatschewo, Ukraine)– wurden ausgewählt, aber auch in Nitra, Pannonhalma und Pusztaszer wurden Denkmäler errichtet.
Jede dieser Gedenkstätten war von historischer Bedeutung und symbolisierte die tausendjährige Geschichte des ungarischen Volkes und seine territoriale Einheit im Karpatenbecken.
Die Denkmäler entlang der tausendjährigen Grenzen blickten nach außen zu den „Nachbarn“, als wollten sie zeigen, dass die Ungarn das ihnen von ihren Vorfahren vermachte Land schützen. Wie stark dieses Symbol war, zeigt die Tatsache, dass die Staaten der Kleinen Entente sie am Ende des Ersten Weltkriegs so schnell wie möglich zerstörten.
Besonders interessant ist das Schicksal des Turuls auf der Burg von Munkács in Transkarpatien, der auf einem 33 Meter hohen Obelisken die tausendjährige europäische Vergangenheit der Ungarn verkündete. Zuerst wurde er 1924 von den Tschechoslowaken abgerissen, dann 1945 von den Russen, die den größten Teil des riesigen Bronzevogels, der sich in einem Lagerhaus befand, für den fünfzackigen Stern ihres eigenen „Befreiungs“-Denkmals einschmelzen ließen. 2008, als die Atmosphäre etwas freier war, spendeten die Ungarn Geld, um das symbolische Denkmal wieder aufzustellen, und im Oktober 2022 wurde es dann von den Ukrainern ohne Vorankündigung wieder niedergerissen.
Es ist für uns Ungarn schwer zu verstehen, welche Abneigung die auf dem Territorium des Landes oder in seiner Nachbarschaft lebenden Völker gegenüber uns empfanden, und welche Gewalt sie begingen und noch heute begehen. Immerhin hat der erste König der Árpáden-Dynastie, der Gründer des Staates, der Heilige István (1000-1038), in seinen Ermahnungen an seinen Sohn der Behandlung von Fremden besondere Aufmerksamkeit geschenkt. „Ein Land mit einer Sprache und einer Sitte ist schwach und fehlbar. Deshalb, mein Sohn, befehle ich dir, die Fremden mit Wohlwollen zu hegen und zu pflegen, damit sie es vorziehen, bei dir zu bleiben, anstatt anderswo zu leben.“ In diesem Geist regierten Istváns Nachfolger, und in diesem Geist lebten die Menschen in Ungarn.
Im Laufe der Jahrhunderte nahmen sie Fremde mit Wohlwollen auf: Deutsche, die vor der Hungersnot auf der Suche nach einem besseren Leben flohen, Kumanen, die vor den Tataren flohen, Serben und Rumänen, die vor den Türken flohen, Slowaken und Ruthenen, die aus den Bergen kamen. Der Freibrief von Béla IV. (1235-1270), stellte die Juden Ungarns für Jahrhunderte unter königlichen Schutz.
Die Aufgenommenen waren zunächst dankbar, von den Ungarn eine neue Heimat zu erhalten.
Aufgrund seiner Größe, geopolitischen Lage und seines Reichtums war das mittelalterliche Königreich Ungarn das Zünglein an der Waage in Europa zwischen dem Deutsch-Römischen und dem Byzantinischen Reich. Die Könige aus dem Hause Árpád und ihre Nachfolger, die Anjous, waren sich ihres politischen Gewichts bewusst, ihre diplomatischen und familiären Verbindungen erstreckten sich über ganz Europa und brachten dem Land Frieden und Wohlstand.
Die islamische Eroberung im 16. Jh. setzte all dem ein Ende. Nach fünfhundert glorreichen Jahren begann für das ungarische Volk eine höllische Reise, hundertfünfzig Jahre türkische Besatzung, ein in drei Teile gerissenes Land, verlorene Freiheit und ein ständiger Kampf um die Unabhängigkeit und gegen die Eingliederung ins Habsburger Reich. Der Westen zeigte nur dann Interesse an Ungarn, wenn das seine jeweiligen Interessen kurzfristig erforderten.
Im Laufe der jahrhundertelangen Kämpfe wurden die Ungarn zu einer Minderheit in ihrem eigenen Land, wozu die frühere Absorption und die bewusste Umsiedlungspolitik der Habsburger wesentlich beitrugen.
Das Land stand in zwei Weltkriegen auf der Verliererseite, Trianon, die verstümmelte Heimat, der sowjetische Einmarsch und die Massenflucht aus ihr, die Dissidenten, prägten die letzten fünfhundert Jahre.
Die nächsten fünfhundert Jahre können uns zu neuen Hoffnungen inspirieren. Bei seinem Besuch in Budapest im vergangenen Jahr sprach Papst Franziskus über die Mission der Ungarn. Ungarn nehme einen zentralen Platz in der Geschichte Europas ein, sagte der Heilige Vater. Die Archive des Vatikans belegen, dass dieses Land über Jahrhunderte hinweg eine Bastion des Christentums war und auch heute noch sein muss. In den heutigen unruhigen Zeiten, in einem Europa, das durch Ideologien und globale Interessen gespalten ist, besitzt Ungarn die Rolle des Brückenbauers. Denn in diesem Land leben verschiedene Konfessionen und Völker konfliktfrei zusammen und arbeiten in einem respektvollen und konstruktiven Geist zusammen. Europa braucht auch die verschiedenen Nationen, um eine Familie zu bilden, in der Wachstum und Einzigartigkeit bewahrt werden können. „Die Aufgabe der Ungarn ist es heute, den Schatz der Demokratie und den Traum vom Frieden zu bewahren und zu verwirklichen. Denn die Ungarn kennen den Wert der Freiheit, weil sie einen hohen Preis dafür bezahlt haben“ – sagte Papst Franziskus. Wir wissen es wirklich, wie viel! Deshalb sind unser Konzept der Freiheit, unsere Werte der nationalen Gemeinschaft, unsere europäische Einsamkeit anders, deshalb ist unser Verschiedenartigkeit auffallend.
Im Jahr 2024 wurde der Sakerfalke, unser Turul, zum Vogel des Jahres, zum Vogel-Botschafter Ungarns. Ich empfinde darin etwas Symbolisches, ich warte darauf, dass der ungarische Mythos wiederbelebt und mit allem vermischt wird, was heute hochaktuell ist. Europa sollte zu seinen christlichen Wurzeln zurückkehren, seinen wahren Platz finden, Frieden in der Welt schaffen, und wir Ungarn sollten dabei eine wichtige Rolle spielen.
Autorin, Dr. phil. Irén Rab ist Kulturhistorikerin
Deutsche Übersetzung von Dr. Andrea Martin
MAGYARUL: