StartAktuellesFestklammern ums Überdauern – Schicksal der ungarischen Minderheit nach Trianon

Festklammern ums Überdauern – Schicksal der ungarischen Minderheit nach Trianon

4. Juni 2024 Sándor Csoóris Vorwort zum Buch ‚Sackgasse‘ (Kutyaszorító) von Miklós Duray. 1983

Unter dem Titel Kutyaszorító (‘Sackgasse’) erschien im Frühjahr 1983 bei Sándor Püskis New Yorker Verlag der autobiographische Roman von Miklós Duray. Das Vorwort zu dem Werk schrieb Sándor Csoóri. Die behördliche Strafe ließ nicht lange auf sich warten. Duray wurde am Ende 1982 in der Tschechoslowakei verhaftet, Csoóri durfte ein Jahr lang keine publizistischen Texte mehr in Ungarn veröffentlichen und zur Illyés-Gedenkveranstaltung am Collegium Hungaricum in Rom nicht ausreisen. Sándor Püski hingegen wurde das Visum verwehrt, sodass er nicht an den Feierlichkeiten zum vierzigsten Jubiläum des Szárszóer Treffens teilnehmen konnte.

Dieses Buch wurde nicht von einem Schriftsteller verfasst. Noch nicht einmal von einem geübten Schreiberling. Das unerträgliche Schicksal selbst ließ einen in der Tschechoslowakei geborenen und bis heute dort lebenden jungen ungarischen Intellektuellen dieses Buch verfassen: Miklós Duray.

Mehr als zwölftausend Sonnenauf- und -untergänge sind im Leben des Verfassers bereits verstrichen. Schneefälle, Stürme und Regenschauer. In jedem seiner Jahre sprossen Kartoffel, Holunder und Mohn auf, um dann zu verblühen, doch in diesem Buch findet sich nicht eine Spur vom natürlichen, sprudelnden Leben. In Krieg und Frieden betrachtet Fürst Bolkonsky selbst im Angesicht des Todes auf der Schlacht von Borodino noch das Wirbeln des Firmaments, wie es blau und mächtig über ihm kreiselt, und macht damit auch das Vergehen noch zur andächtigen Erfahrung. Im vorliegenden Buch jedoch findet sich nicht ein Satz, der sich in solche Höhen begibt. Es steckt nichts Selbstvergessenes oder Erhebendes darin. Es ist, als würde für Duray die Natur nicht einmal existieren, ebenso wenig wie Wolken, Pfade, Mädchen oder die grünen Abende der Niederen Tatra, die einem Lust machen, hoch zu den Adlern hin zu ziehen.

Als ich sein einhundertzwanzig Seiten langes Manuskript zum ersten Mal las, schlug mir die Kälte ebendieses Fehlens aus dem Raum zwischen den Zeilen entgegen. Beim zweiten Lesen jedoch begriff ich, dass diese Unvollständigkeit selbst eine Art Dokument ist. Sie ist ein unabsichtlicher, instinktiver Beleg dafür, dass in Minderheit lebende Menschen nicht nur von der Gesellschaft, sondern vom Dasein selbst ausgestoßen sind.

Aus der Erfahrung wissen wir, dass Diktaturen, ob seicht oder streng, auch die Angehörigen der Mehrheit verkümmern lassen, ihre Träume und Vorstellungen zerrütten und ihre Seelen vermodern lassen, dennoch finden jene leichter die Hoffnung wieder als die Angehörigen von Minderheiten.

War dies schon immer so?

Vor vierzig Jahren verband László Németh das Minderheitendasein nicht mit Selbstbeschränkung, sondern im Gegenteil mit der Zukunft und dem Qualitätsgedanken. Seine Rede in Nagyvárad 1943 stützte er auf einen einzigen kristallklaren Gedanken: „Die Daseinsberechtigung der Wenigen gründet sich darauf, dass sie besonders sind. Es verleiht einer Minderheit Befugnis, wenn sie elitär zu sein vermag.” Diese Erinnerung zwingt einen nahezu in die Knie: Gab es tatsächlich eine Zeit, als man an derart privilegierte, europäische Ideen glauben konnte? Daran glauben konnte, dass die abgetrennte ungarische Bevölkerung, wie ein tragischer Held, es nicht nur überhaupt zur seelischen Größe bringen würde, sondern auch noch zu einer beispielhaften Großartigkeit?

Heute wäre schon der Gedanke – der bloße Gedanke! – an eine Elitenrolle der Minderheit nichts als leere Träumerei. Die Beschränkung der Minderheiten ist seit dem Zweiten Weltkrieg soweit entartet, dass sie bereits von sich aus in qualvolle Selbstbeschränkung ausschwenken.

Nehmen wir ein alltägliches Thema, als reine Illustration!

Zum nationalen Tanzhaustreffen, das dieses Frühjahr in Budapest veranstaltet wurde, durften auch aus der Tschechoslowakei achtzig oder neunzig Gymnasiasten anreisen. Das Treffen war eine unschuldige Musikveranstaltung, sodass sie ohne Angst teilnehmen konnten. Am Folgetag blieb ihnen noch genug Zeit, sich in der Hauptstadt umzusehen, schließlich waren die meisten von ihnen noch nie in Ungarn gewesen. Sie besuchten auch das Budaer Burgviertel. Als die Gruppe den Platz vor der Matthiaskirche erreichte, bot der Fremdenführer dem begleitenden Lehrer an, dass man, bevor es hinüber in den spitzenbesetzten Harnisch der Fischerbastei mit dem Ausblick auf Pest, das Parlament und die Donau ginge, auch einen Blick ins Innere der Kirche werfen könne, wo er den Schülern gern die Geschichte der Krönungsstätte erklären werde: angefangen von den Gräbern, den Flaggen, den Schätzen der Hunyadis bis hin zum zwanzigsten Jahrhundert.

Der Vorschlag ließ den Lehrer erblassen. Der Schrecken schoss ihm durch den Körper: Was, wenn sich einer der Schüler zuhause verplappert, wenn auch nur aus Versehen, und verrät, dass sie nicht nur zum Tanzen nach Ungarn gekommen waren, sondern ganz Buda gründlich erkundet hatten, in der Krönungskirche gewesen waren und hinter deren Mauern sogar noch einen ausgiebigen Geschichtsvortrag angehört hatten – das würde gerade ausreichen, um seine Stellung vor dem slowakischen Schulleiter des Gymnasiums und den anderen Lehrkräften bis ans Ende seiner Tage zu besiegeln. Der Lehrer entschied mit weißem Antlitz, aber kurzentschlossen, dass sie nicht hineingehen würden. Nein und nein, und möge ein Blitzschlag sie dort hineintreiben. Sämtliche Touristen der Welt können dort hinein. Es können die Tschechen, die Slowaken, die Franzosen, die Rumänen, die Deutschen, die Äthiopier und die Kubaner hinein, aber nur ja die in Minderheit lebenden ungarischen Schüler nicht.

Diese Geschichte stammt zwar nicht aus Durays Buch, doch sie fügt sich gut in all dessen huckelige, lädierte Szenen ein.

Wer die gesunde Offenheit des Menschen, die Freude an der Rebellion oder der Selbstverwirklichung zu ersticken sucht, der muss aus ihm zuallererst das Leiden ausmerzen.

Das Leiden? Wie das?

Indem er den Menschen systematisch an eben dieses Leiden gewöhnt. Ich glaube, es gibt keine Bloßstellung, keine gesellschaftliche oder psychologische Absurdität, die für einen Auslandsungar im Sommer 1982 nicht vorstellbar wäre. Alte Bekannte erzählten mir, wie ein Junge aus Kalotaszeg in Siebenbürgen seinen Wehrdienst mit lauter Regater Rumänen verbrachte, drüben im Altreich. Sie sahen sich zusammen ein rumänisch-ungarisches Fußballspiel im Fernsehen an. Die Stimmung war explosiv, angespannt, die jungen Nerven kannten noch keine Selbstbeherrschung. Tooor! – so springt er von seinem Platz auf, mit in die Luft gerissenem Arm. Seine Neigung zugunsten der Ungarn bezahlt er binnen eines Augenblicks mit dem Leben. Einer seiner Kameraden knallt ihn – benebelt – ab. Zu den Eltern gelangt der Leichnam ihres Sohnes natürlich so, als hätte er sich den Kopfschuss selbst verpasst.

Letzten Endes ist dieser Fall nicht mehr zu entwirren, denn er liegt außerhalb der Grenzen dessen, was gestanden und was begriffen werden kann. Ich selbst wäre bereit zu glauben, dass es sich um reine Erfindung handelt, ein pures Hirngespinst, einen neugeschaffenen Mythos, doch solche Hirngespinste und Mythen können in einer völlig andersartigen Wirklichkeit nicht entstehen, sondern ausschließlich in einer solchen, wo die Möglichkeit für derart haarsträubende Unfälle historisch und psychologisch gegeben ist.

Und das ist sie. Von Seiten der Ungarn, aber auch von Seiten der Rumänen und Slowaken. Als Reaktion auf Gyula Illyés’ erinnerungswürdigen Text, seinen Essay mit dem Titel Antwort an Herder und Ady, ließen die Rumänen nicht nur einen diffamierenden Artikel von einem ihrer Akademiker verfassen, sondern führten als weitergreifende, geradezu wild fuchtelnde/aufgebrachte Antwort schnell noch die Gräueltaten von Horthys Soldaten auf. Von den Rachezügen der Maniu-Banden und den Axt-Hinrichtungen in Szárazajta fiel natürlich kein Wort, als wären diese nie geschehen.

Den gezielt im Előre veröffentlichten Artikel schoben mir alle voller Entrüstung hin und erklärten, sein wahres Gesicht wäre kaum verschleiert und Illyés’ auf eine Lösung drängende Klageschrift hätte doch eine erhabenere Antwort seitens der Rumänier verdient. Statt mich zu entrüsten, las ich die Texte, die aus der Vergangenheit Vorwürfe zogen, eher voller Schrecken. Denn ein Verbrechen wieder und wieder mit anderen Verbrechen zu begründen, das ist die Logik von Verbrechern. Von jenen, die nicht fähig sind, den auf die falsche Bahn geratenen Prozessen ein Ende zu bereiten.

Gerade die Art, wie sie die auf sie einprasselnden Wahrheiten von sich fernhalten wollten, führte zu ihrer psychologischen Entlarvung. Denn wer würde in Ungarn schon Horthy und seine einmarschierenden, ihrer Menschlichkeit entledigten Soldaten entschuldigen? Ihretwegen haben wir schon mehrfach büßen müssen. Auf sie zu verweisen ist politisches Ungeschick; es ist nichts anderes als eine Rechtfertigung der Politik der Nationalitätenzerstörung, die seit dem Krieg betrieben wird. Ein Versuch, die Aufmerksamkeit davon abzulenken, was aktuell mit der ungarischen und sächsischen Minderheit getan wird.

Denn nach vierzig Jahren kann doch wohl nicht Horthy der Grund für den Tod des Jungen aus Kalotaszeg sein. Auch nicht für den meines Bekannten, den die Securitate um jeden Preis als Spitzel engagieren wollte, der stattdessen jedoch lieber Selbstmord begang und sich vom zehnten Stockwerk eines Klausenburger Neubaublocks in die Tiefe, auf den Beton stürzte.

Aber bleiben wir noch bei der Tiefenpsychologie. Je kraftloser der Widerstand der Nationalitäten, desto ungestümer ihre Unterdrückung. Was ist das anderes als wütende Perversion, ein Krankheitssymptom, das mit scheeler Erregung, ja sogar Abenteuerlust nach endgültiger Genugtuung strebt. Leider können die Staatssicherheitsorgane der Mehrheitsbevölkerung nirgendwo so nach Lust und Laune vorgehen wie in den von nationalen Minderheiten bewohnten Gebieten. Zum einen können sich hier auch verworrene Instinkte ungehemmter ausleben, zum anderen lässt sich hier stets eine Ausrede zur Befriedigung ihrer Neigungen ausschlachten. Die ist leicht zu finden,

weil eine Minderheit keine kollektiven Rechte hat – doch wenn ihre Angehörigen sich als Individuum einen Fehltritt, ein Vergehen, einen politischen Fauxpas leisten, dann kann man sie ohne Weiteres als kollektiv schuldig behandeln. Man kann ihnen vorwerfen, sie wären Fremde, Heimatlose, angehende Verräter. Bei einem rumänischen Ungarn kann man beispielsweise jederzeit vorbeischauen und eine Hausdurchsuchung durchführen, besonders wenn er Verbindungen zu Ungarn hat.

Mehr noch, nach der Hausdurchsuchung kann man ihn sogar zwei Protokolle unterschreiben lassen. Auf dem einen unterzeichnet er, die Durchsuchung sei rechtens gewesen und ohne Probleme abgelaufen, und auf dem zweiten, dass man bei ihm chauvinistische ungarische Bücher gefunden habe, die er im Beisein der Polizei selbst verbrannt habe. Wen stört es schon, dass die Bücherverbrennung frei erfunden ist?

Was ist das anderes als ein Kleinformat der großen Scheinprozesse? Was ist das anderes als das Rezept der Geheimpolizei für eine künstlich hervorgerufene Bewusstseinsspaltung? Das Gegenstück zu den „Tages-” und den „Nachtanordnungen”, deren teuflische Crux darin liegt, dass landesweite Bestimmungen über, beispielsweise, das Bildungswesen oder die Leitsätze der Vermögensschätzung einerseits in den landesweiten Zeitungen veröffentlicht werden, dass in den von nationalen Minderheiten bewohnten Regionen aber zugleich eine „nächtliche” Anweisung eintrifft. Diese bekommen allerdings nur eingeweihte Parteiführer und Polizeiangestellte im Geheimen zu lesen. Sie müssen sie gegenzeichnen und zurücksenden. Diese abgekarteten Anweisungen sind natürlich nur die zeitgemäßesten Mittel im Einmaleins der gewaltvollen Assimilation.

Lange konnte man glauben, diese an die Geheimpolizei erinnernden Methoden wären nur in Rumänien zum Brechen und Demoralisieren der ungarischen Bevölkerung gebräuchlich. Dies erwies sich jedoch als Irrtum. Die Einengung und Entrechtung der Magyaren in der Slowakei verläuft – wenn auch seit dem Krieg besser versteckt – Schritt für Schritt mit derselben Entschlossenheit.

In ihren verstohlenen Blicken unter dem Helm des Sozialismus lässt sich zwischen der nach Trianon entstandenen kleinen Entente eine traurige Verschworenheit beobachten.

Laut dem Protokoll vom 20. Mai 1919 machte die tschechoslowakische Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz folgendes Angebot: „Es ist die Absicht der tschechoslowakischen Regierung, diesen Staat so zu organisieren, dass er als Grundlage des Nationalitätenrechts dieselben Grundprinzipien anerkennt, die in der Verfassung der Republik Schweiz  zu finden sind: Das heißt, es ist ihre Absicht, dass die Republik der Tschechoslowakei ein der Schweiz ähnlicher Staat werden solle, natürlich unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse Tschechiens… Es wird ein außerordentlich liberales System entstehen, das dem schweizerischen stark ähneln wird.”

Die Großmächte glaubten an die Versprechen von Beneš, denn sie wollten an sie glauben.

Es lässt sich nicht abstreiten, dass die flächenmäßig gewachsene Tschechoslowakei ein viel demokratischeres System war als das verkleinerte Ungarn Horthys. Gerade die historischen Zugewinne nährten ihre Freizügigkeit und ihren Liberalismus.

Doch dass weder die Freizügigkeit noch der Liberalismus sich zu ständigen Tugenden der neugeordneten Republik verfestigt haben, das haben der Zweite Weltkrieg und mehr noch die Nachkriegszeit unverhüllt offenbart: Aus Kálmán Janics’ unschätzbar wertvollem Buch A hontalanság évei (‘Die Jahre der Heimatlosigkeit’) tut sich die Summe der Verfälschungen lückenlos vor uns auf: Der als Liberalismus getarnte Nationalismus der Tschechen, dem die nach Autonomie strebende Slowakei die einen „Gegenpol” zu bieten versuchte. Die Slowakei Tisos, der später mit Hitler mitziehen sollte.

Die slowakischen Magyaren gerieten so in die historische Situation, lediglich zwischen Horthys Ungarn und Tisos Slowakei wählen zu können. Es ist nur natürlich, dass sie sich für Horthys Ungarn entschieden.

Für diese Entscheidung hatten sie nach dem Krieg erbarmunglos zu büßen, mit Enteignungen, Aussiedlungen und noch dazu völliger Entrechtung. Dabei war diese Entscheidung ebenso wenig die ihre wie die Abspaltung von Ungarn. Machtlos drifteten sie hin und her. Zusammengefasst: Die zur Machtlosigkeit verdammte ungarische Minderheit der Slowakei wurde behandelt wie ein handlungsfähiger Schuldiger.

Auch auf diesem Gebiet liefert Kálmán Janics bestürzende Zahlen. Er stellt europäische Statistiken über Kriegsstrafen gegenüber. Aus seiner Zusammenstellung wird ersichtlich, dass die meisten Kriegsverbrecher aus der ungarischen Minderheit in der Slowakei hervorgingen. Prozentual betrachtet mehr als aus den Ländern Hitlers und Mussolinis, und mehr als aus Ungarn oder Frankreich. Man könnte fast erwarten, dass irgendwo ein irrer Statistiker aufspringt und anhand des zahlenmäßigen Anteils von Kriegsverbrechern erklärt, den zweiten Weltkrieg habe die ungarische Minderheit in der Tschechoslowakei ausgelöst.

Miklós Duray wurde in dem Jahr als Angehöriger der ungarischen Minderheit geboren, in dem die Dezimierung der slowakischen Magyaren durch das Kriegsende ihren Anfang nahm.

Unter gewissen Schwankungen hat sich diese Abrechnung mit der Minderheit bis heute fortgesetzt. Dies war Durays bisheriges Lebensumfeld, wie es für den Eskimo die eintönige, harte Schneelandschaft ist.

„Acht Jahre lang waren wir ständig zum Aufbruch bereit”, erinnert er sich an seine Kindheit zurück. Ihre noch vierundvierzig in Kisten verpackten Habseligkeiten wagten sie erst Anfang der fünfziger Jahre wieder auszupacken. „

Im Leben der slowakischen Magyaren wurde die lähmende Heimatlosigkeit und Furcht der Zeiten Hitlers und Stalins wieder auferweckt – oder vielleicht eher fortgeführt? Doch auf Unterstützung war diesmal von keiner Seite zu hoffen, denn die Pariser Friedenskonferenz hatte die Belange nationaler Minderheiten zur reinen inneren Angelegenheit erklärt. 1946 protestierte die Ungarische Kommunistische Partei gegen die gewaltsame Aussiedlung der Ungarn, noch dazu mit den Worten Mátyás Rákosis. Mit Verweis auf das Prinzip der Nichteinmischung antwortete ein Journalist aus der Tschechoslowakei:

„Jeder Ungar, der außerhalb der ungarischen Grenzen in den Nachbarstaaten verblieben ist, wird für die ungarische Nation insgesamt in dem Moment am schädlichsten, in dem man sich in Budapest mit ihm zu beschäftigen beginnt.”

Für die Einwilligung in das „heilige Prinzip” der Nichteinmischung trifft beide außereuropäischen Großmächte eine schwere Verantwortung: die Vereinigten Staaten wie auch die Sowjetunion. Erstere wegen ihres gutgläubigen Dilettantismus, zweitere wegen ihres lauten und vielversprechenden, aber auf Fälschung beruhenden Internationalismus. Bedel-Smith, der amerikanische Entsandte auf der Pariser Friedenskonferenz von 1946, erklärte: „Ein Bürger der Vereinigten Staaten versteht nur schwer, dass Rassenminderheiten weiterbestehen möchten, wenn sie sich auch assimilieren könnten.” Was für ein waschecht amerikanischer Scharfsinn! Denselben mit amerikanischer Hefe gegärten Gedanken knetete  auch Roosevelts Witwe weiter, die damalige Präsidentin der UN-Menschenrechtskommission: „Wenn die Rechte des Individuums respektiert werden, dann gibt es keinen weiteren Bedarf an expliziten Minderheitsrechten.”

Was die andere (von Europa weit entfernte) Großmacht, die Sowjetunion, über die Zukunft der vom Nervensystem und der Geschichte Europas geschundenen Minderheiten zu sagen hatte, ist kaum von Belang. Sie konnte über nichts anderes predigen als den Internationalismus als Lösung jedes Problems. Doch Diktaturen können es sich schließlich stets herausnehmen, mit Glanz zu blenden und dann ganz anders zu handeln als angekündigt.

Bis zum heutigen Tage hat in Ungarn, als eine Art bedrohliche Evidenz, noch immer die Nachkriegsvereinbarung Gültigkeit, nach welcher Minderheiten eine innere Angelegenheit seien, sodass mit den in den Nachbarländern lebenden Magyaren passieren konnte, was wollte, die beschwichtigende Leier lautete immer:

bloß nichts sagen, bloß nicht auflehnen, bloß keinen einzigen Mucks des Protestes an die Nachbarn richten, denn schon mit dem kleinsten Zucken im Gesicht erschweren wir den bei ihnen lebenden Ungarn ihre Lage.

Dieses Regierungsprinzip erschien zu Anfang überzeugend, wie ein Gebot der Ehre, doch mit der Zeit wurde klar, dass unsere taktvolle Taktik keinen Deut wert war, denn – unabhängig vom Verhalten der ungarischen Regierung – verschlechtert sich die Situation der magyarischen Minderheiten immer mehr.

Unser Handlungsspielraum ist natürlich nicht sehr groß, denn wer von Erpressern in die Ecke gedrängt wird, der ist ihnen übermäßig ausgeliefert. Aber eine offen ausgetragene Spannungssituation gegenüber Rumänien ließe sich als warnendes Beispiel anführen. Die ungarische Regierung hat den ungarisch-rumänischen Freundschaftsvertrag zwei Jahre lang nicht unterschrieben, mit der Begründung, für derartige Freundschaftsverträge wäre auch etwas Freundschaft vonnöten. Diese zwei Jahre waren die fruchtbarsten in Bezug auf das Verhältnis zwischen den Siebenbürgener und den hiesigen Ungarn. Ein emotionales und intellektuelles Aufeinandertreffen schmelzte den über Jahrzehnte gewachsenen Eispanzer der Entfremdung. Junge Leute kamen und gingen von beiden Seiten, es wurden zuhauf Bücher, Lieder und Gedanken ausgetauscht.

Die ungarische Intelligenz Siebenbürgens flehte schon fast zum Himmel, die Ungarn mögen den Vertrag nur ja lange nicht unterschreiben, denn mit ihrer Bedingungen stellenden Haltung verschafften sie auch ihnen Achtung gegenüber den Rumänen und regten diese womöglich zum Nachdenken an.

Und sie behielten abermals Recht. Sobald die ungarische Regierung – auf äußeres Drängen hin – den Vertrag unterzeichnet hatte, dauerte es kein halbes Jahr, bis die Hölle losbrach. Der Reihe nach wurden längst fertig beschriebene Verbotstafeln aufgestellt. Nach der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags wurde unter anderem auch jene weltweit alleinstehende Verordnung in Kraft gesetzt, laut welcher ausländische Staatsbürger nicht in Privatwohnungen übernachten dürfen, sofern keine Blutsverwandtschaft mit den Bewohnern besteht – alle anderen haben in Hotels und Gasthäusern zu nächtigen. Wo es die nicht gibt, kann man bei trockenem Wetter höchstens ein Zelt aufstellen, auf vorgegebenem Gebiet. Selbst ein Blinder konnte sehen, dass diese allgemeingültige Verordnung vor allem die ungarische und sächsische Bevölkerung traf. Die Zahl der nach Siebenbürgen Reisenden nahm auch sogleich ab. Die Beziehungen, die zur seelischen Instandhaltung der magyarischen Minderheit beitrugen, rissen erneut ab. Die Logik des Verderbens ist die Vertiefung des Verderbens. Auf das seelische und politische Versagen folgte, als einfache Konsequenz, auch wirtschaftliches Versagen.

Wer in den westlichen Demokratien aufgewachsen ist, lauscht den Geschichten über das Leid der osteuropäischen Minderheiten mit Unglauben. Einerseits, weil er sie für Übertreibungen hält, andererseits, weil er es (ausgehend von seiner eigenen Logik) für unvorstellbar hält, dass mit Füßen getretene Gemeinschaften es ohne jeden Mucks hinnehmen, wie über sie hinweg getrampelt wird. Schließlich wehren sich die Basken mit Gewehren, die Iren mit Sprengstoff – warum folgen nicht auch die Siebenbürgener oder die slowakischen Ungarn ihrem Beispiel?

Diese provokante Frage stammt nicht von mir, sondern wurde vor Jahren von radikalen italienischen Akademikern in den Raum geworfen. Was hätte ich ihnen antworten sollen? Ich führte in meiner Argumentation nicht das Klischee an, dass Minderheiten in Mitteleuropa unmöglich an Waffen herankommen würden, sondern die Tatsache, dass sie noch nicht einmal bis zu jenem Geistesblitz gelangen, sich Waffen zu beschaffen. Dafür, dass ein Gedanke, ein Gefühl, eine Wahrheit lebensfähig wird, braucht es nämlich den Konsens von mindestens zwei Personen. Einer Person, die den Gedanken formuliert, und einer, die ihn inbrünstig oder auch nach eingehender Überlegung bekräftigt.

Hier tut sich jedoch für jeden außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn ein lähmendes Hindernis auf. Es gibt unter ihnen niemanden, der nicht vom Schicksal auf die eine oder andere Weise verformt und von Misstrauen vergiftet worden wäre.

Dieses Misstrauen schwelt schon so lange in ihnen, dass nicht einmal beste Freunde einander auf Leben und Tod vertrauen. Selbst Eltern ihren Kindern nicht ohne Vorbehalt. Ich kannte einmal einen reformierten Pfarrer, den die Securitate dazu zwingen wollte, seine eigene Gemeinde anzuschwärzen. Wie sollen sich unter solchen Umständen die Kräfte zu irgendeiner Art von Widerstand vereinen? Wer ohne Vertrauen ist, ist schwach. Nicht einmal aggressiv kann er sein. Außer sich selbst gegenüber, als Alkoholiker oder Selbstmörder.

Um diese Verzerrungen nicht bloß unpersönlich zu erläutern, muss ich erzählen, dass der Autor des Buches, Miklós Duray, drüben in der Tschechoslowakei von vielen für einen Polizeispitzel gehalten wird. Denn wenn er derart freimütig, fest und entschlossen mit seiner Meinung vor die Welt tritt und bis heute nicht einmal „versehentlich” vom Auto überfahren oder verhaftet wurde, dann kann es sich doch nur um einen eingeschleusten Provokateur handeln. Diese schon in Wahnsinn ausartenden Verzerrungen sind keine einfachen Missverständnisse. Hinter ihnen steht das Gesetz: das undurchdachte ideologische System und die Realität des Sozialismus.

Ich möchte einige der Gründe erwähnen, die zu diesem Übel geführt haben.

An erster Stelle muss hier sofort das Einparteiensystem genannt werden. Der Nationalismus kann in Mehrparteienstaaten grundsätzlich keine so ungebremsten und diktatorischen Züge annehmen, wie in jenen Ländern, die von einer Partei regiert werden. Denn wo Parteien um die Macht wetteifern, dort wird einer der Wettstreiter, ob aus Überzeugung oder aus Parteiinteresse, stets die Belange nationaler Minderheiten auf sich nehmen. Wenn er das nicht täte, müsste er nämlich damit rechnen, dass die ein bis zwei Millionen Minderheitswähler die Waage der Regierungsmacht bei der nächsten Wahl ganz einfach zugunsten der Gegenseite kippen lassen.

Der zweite Grund, der die Angehörigen nationaler Minderheiten mindestens genauso sehr ihrem Schicksal auslieferte, ist die Beseitigung des Privateigentums, beziehungsweise dessen erhebliche Einschränkung. Solange ein der Minderheit angehöriger Bauer nämlich Land, Pferde und Kühe besaß und Mais anbaute, und der Staat (wenn auch auch nur metaphorisch) auf seine Milch, sein Fleisch, seinen Mais und seine Lederschuhsohlen angewiesen war, hatte er nicht so viel zu befürchten. Es schützte ihn nicht nur das sanktionierte Gesetz, sondern auch das staatliche Interesse.

Doch seines Privatbesitzes beraubt und ohne wirtschaftliche Stütze, ohne Schutzschild, wurde aus ihm ein vollkommen verlorener Staatsbürger. Ein herumschubsbarer Angestellter.

Der dritte Hauptgrund: die Zertrümmerung der Kirchen, die die Minderheit seelisch, sprachlich und moralisch verteidigten. Das ideologische Kartätschenfeuer des Marxismus zerrupfte auch die religiösen Bräuche und Einrichtungen der Mehrheitsbevölkerung gehörig, aber die größte Zerstörung geschah im Block der Minderheiten. Was der rumänische König niemals gewagt hätte, das wurde von den Parteiführern mit Verweis auf die Weltanschauung des Sozialismus eingefordert, ohne mit der Wimper zu zucken: Bischöfe von tadelloser Moral wie Áron Márton wurden für zehn bis fünfzehn Jahre inhaftiert, auch ohne Begründung.

Soll ich noch mehr destruktive Faktoren aufzählen? Die teuflische Rolle der schnell aufholenden Zivilisation? Die Tatsache, dass dem sozialistischen Chauvinismus nichts so gelegen kam wie die schwungvolle Entwicklung der Industrie, der Städte, der Zwang zur Verlagerung von Arbeitskräften? Mit der Modernisierung begann man tunlichst nicht in den von nationalen Minderheiten bewohnten Gebieten. Von dort wurden nur die Arbeitskräfte eifrig und bewusst abgezapft. Und nachdem das vollbracht war und es die Minderheitsbevölkerung dieser unterentwickelten Provinzen auf weit entfernte Arbeitsplätze verschlagen hatte, da konnte es mit der Entwicklung des ländlichen Raumes losgehen, denn hierfür musste man ja Werksleiter, Ingenieure und Facharbeiter aus der Mehrheit dort ansiedeln. Die sorgsam platzierten Betriebe und Fabriken erwiesen sich als feste Brückenpfeiler, von denen aus man (unter Berufung auf den Fortschritt) einen endgültigen Angriff auf das Feldlager der in einem Block konzentriert lebenden nationalen Minderheiten starten konnte. Ein, zwei Jahrzehnte reichten aus, um geschichtlich so verwachsene Städte wie Klausenburg ein vollkommen anderes Gesicht und eine andere Seele annehmen zu lassen.

Neben den Städteassimilationen setzt sich auch die nachhaltige, methodische Umformung der von Minderheiten bewohnten Provinzen fort.

Eine Statistik nur zur Veranschaulichung: 1919 hatten in der Südslowakei von 787 Dörfern noch 505 einen ungarischen Bevölkerungsanteil von über neunzig Prozent. Bei der Volkszählung 1961 nennt die Statistik statt 505 nur noch 183 solcher Dörfer.


In Durays Buch ist nicht eine derartige Kennzahl zu finden. Stattdessen stellt er die zerstörerischen Prozesse in menschlichen Dokumenten dar. Das krampfhafte Festklammern um ihr Überdauern.

Mit dem in ein paar Zeilen skizzierten Lebenslauf seines Vaters geht es angefangen vom Abschluss des Jurastudiums über die Arbeit in der Eisenfabrik bis hin zum Polstererhandwerk so steil bergab, als würde es sich um den Lebenslauf eines entgleisten Alkoholikers handeln, dabei war der Haken schlicht, dass er Ungar war.

Auch aufgrund seines persönlichen Schicksals hätte Duray allen Grund, parteiisch zu sein, ja sogar hasserfüllt. Diese Fallen umgeht er jedoch erhobenen Hauptes. Er ist sich wohl bewusst, dass es sich bei der Minderheitenfrage nicht um eine Rassenfrage handelt, wenn man daraus auch eine solche zusammenzuschustern versucht. Die Minderheitenfrage ist immer auch eine Frage der Mehrheit; mit anderen Worten: eine gesellschaftliche Frage.

Genau davon überzeugte ihn vor einigen Monaten der Prager Frühling. Die um sich greifende Demokratie und die auflebende politische Kultur erweckte auch in den südslowakischen Ungarn ein Fieber. Als der auf sie wirkende Druck abnahm, wählten sie nicht die lärmende Gelassenheit der Freiheit, sondern schufen sich sogleich ein institutionelles Gerüst. Wenn auch unter Anstrengungen, so erschufen Duray und seine Mitstreiter für sich den unabhängigen Ungarischen Jugendbund. Diese Organisation überlebte jedoch nur so lange, wie der Fensterspalt der Demokratie etwas frische Luft in das Land strömen ließ. Als die Fenster im August 1968 erneut verriegelt wurden, erteilte die politische Macht dem Bund sofort das Todesurteil.

Dieser Teil des Buches ist das Tagebuch eines Sisyphus. Von dem vielen Hin- und Hergezerre und Geschufte möchte man das Buch fast beiseite legen, denn genau wie bestimmte Sequenzen der Pornografie oder einiger sadistischer Filme den Geist schnell ermüden, ruft auch der Kampf um die Gründung und den Erhalt der Jugendorganisation eine ermattende Traurigkeit des politischen Sadismus hervor. Am Ende legt man das Buch aber doch nicht beiseite, weil Durays Sturheit dies nicht zulässt.

Durays Buch ist nicht nur eine moralische Leistung, sondern in gewissem Sinne auch ein neuer Grenzstein. Alle bisherigen Texte über das Schicksal der Minderheiten strotzten vor Ausreden: über die Sünden der ungarischen Herrscherklasse, über das beschämende Kapitel der Magyarisierung nach 1867. Im Nachhinein müssen wir diese Absicht gutheißen: Die geschichtliche und moralische Entschädigung hatte dies von den Autoren, Historikern und Politikern verlangt.

Duray bricht mit dieser auf schlechtem Gewissen beruhenden Tradition. Er erläutert dies zwar nicht, lässt aber ahnen,

dass jedwede Ausrede einen neuen Anklagegrund gegen die nationalen Minderheiten liefert. Es scheint, als würde er die Betroffenen aufrufen, sich die nach Trianon vergangene Zeit anzusehen und zu erkennen, dass die Endsumme der tragischen Abrechnung nicht den Ungarn ins Gewissen drückt.

Während ich diese einleitenden Zeilen schreibe, wird Miklós Duray wegen dieses Buches mit einer Anklage oder der Nervenheilanstalt bedroht. Sein Buch bekam selbstverständlich nur die Geheimpolizei zu lesen, die Leser nicht. In seiner bedränglichen Lage wäre seine einzige Verteidigung die Öffentlichkeit. Das heißt, die ungarisch- und slowakischsprachige Veröffentlichung seiner Autobiografie in der Slowakei.

Dies ist jedoch selbst für den Hoffnungsvollsten zu hoffnungslos. Deshalb ist eine amerikanische Publikation seines Buches zwingend notwendig. Von diesem Zwang abgesehen wäre dies jedoch auch eine Art der Öffentlichkeit, die sich nicht für die Mittel des politischen Skandals, der Anarchie oder des Terrorosmus entscheidet, sondern für die einzige Methode eines Menschen, der nach Einigung sucht: in Geständnisse gebettete Wahrheiten.

Miklós Duray (1945-2022) war ein Politiker und Publizist der ungarischen Minderheit in der (Tschecho)Slowakei. Seine politische Karriere begann unter dem kommunistischen Regime mit Publikationsverboten, Polizeischikanen und Verhaftungen. Duray wurde zu einem der bekanntesten internationalen Oppositionspolitiker des tschechoslowakischen kommunistischen Regimes.

Sándor Csoóri (1930-2016) ungarischer Dichter, Schriftsteller, Politiker

Deutsche Übersetzung: Sophia Matteikat

Ungarischer Text: https://duray.sk/1983/08/kutyaszorito-a-teljes-koenyv/


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